Literatur als "Lebenselixier". Was soll das eigentlich sein? Handelt es sich um eine Flüssigkeit? Bewahrt man sie in großen, dunkelbraunen Flaschen auf? Trinkt man sie nach dem Auf- oder vor dem Schlafengehen? Der griffige Slogan, mit dem eine ziemlich bunte Illustrierte vor ein paar Monaten für Elke Heidenreichs Lesen-Sendung im ZDF warb, macht eher misstrauisch. Bei dem Wort Elixier denkt mancher womöglich an den Lebertran der Kindheit. Und dieses faulige Öl wirkte gewiss nicht wie ein Lebenselixier, eher legte es sich aufs Gemüt wie ein Depressivum. Doch wenn man die Kölner Lesewütige gelegentlich beim Liebesspiel mit Büchern auf dem Bildschirm beobachtet hat, gewinnt die Floskel von der ominösen Flüssigkeit eine gewisse Plausibilität. Das Gespräch über Literatur ist bei ihr zwar leider nur ein Monolog, das ästhetische Urteil versinkt der Dame oft genug in einem Schaumbad der Euphorie. Aber dass diese Frau ohne Literatur nur schwer leben kann, das nimmt man ihr doch ab.
Die andere Seite der Elixier-Medaille verkörpert eine Frau, die man sich nachgerade als extreme Antipodin des medialen Exhibitionismus vorstellen muss. Ihr Liebesverhältnis zu Büchern ist zwar nicht weniger intensiv. Auch Christa Wolf und ihr Mann Gerd lesen genauso gern wie Elke Heidenreich. Ständig, so erfährt man aus Wolfs neuestem Band Mit anderem Blick, lesen die beiden. Lesen gehört so sehr zu ihrem Leben wie kochen, essen, einkaufen. Aber diese nie versiegende Leidenschaft wird hier nicht schrill zur Schau gestellt, gar in die Welt hinaus geschrieen. Hier dominiert das intime Zwiegespräch zweier zurückgezogener Liebhaber.
Der Reiz in dem Vergleich von Heidenreich und Wolf liegt in dem Perspektivenwechsel von der Rezipientin zur Produzentin: Bei Heidenreich wird der lebensverbessernde Trunk mit großem Brimborium eingenommen, bei Wolf wird still und leise hergestellt, was "eigentlich das Zentrum jeden Tages sein sollte" - der Text. Literatur ist allerdings kein selbstgenügsames Ritual. "In dieser Warenwelt, die alles unter sich begräbt, hat Schreiben nur noch Sinn als Selbstversuch, einschneidend, sezierend, die feinsten Verästelungen der Person herauspräparierend und bloßlegend" definiert sie an einer Stelle seine soziale Funktion. Literatur wird bei Christa Wolf zum Nachvollzug des Lebens, einer Art intimen Exhibitionismus. Zwar lässt sie dessen Produkte auch massenhaft auf den Markt werfen. Aber noch das privateste Bekenntnis darin wirkt, als hätte sie es sich nach langem Zögern abgerungen und schämte sich irgendwie dafür.
Die Texte, die in dem neuen Band, einer Aufsatzsammlung, versammelt sind, folgen durchaus Wolfs poetologischer Vorgabe, wie sie sie schon einmal in ihrem Essayband Die Dimension des Autors dargelegt hat. Man rückt Wolf ziemlich nahe, folgt ihr bis zum Duschen ins Bad, auf den Operationstisch und in die Küche, wo die Literaturlegende gern ganz volkstümlich Obstsalat mischt. Mit Texten zu ihrem Mann Gerd und zu beider kulinarischer Vorlieben treibst sie ihr Prinzip "subjektiver Authentizität" etwas auf die Spitze. Das ganze Buch ist eine Attacke des Persönlichen. Doch diesen Effekt einer wohltuenden Profanisierung eines Mythos konnte man schon beeindruckender in ihrem Tagebuch Ein Tag im Jahr (Freitag 41/2003) genießen. Wer sich dagegen, von dem Titel angelockt, auf ein paar Kabinettsstücke geschärfter Wahrnehmung gefreut hat, sieht sich derb enttäuscht. Und zwar nicht nur, weil die Texte bis auf eine banale Ausnahme alle schon einmal veröffentlicht worden sind.
Lassen wir die Frage nach der Rolle der Fantasie in Wolfs "subjektiver", hart am realen Sein orientierter Poetik einmal beiseite. Seien es die Erfahrungen im fernen Los Angeles, wo sie kurz nach der Wende arbeitete, seien es die im heimischen Berlin - Wolf rückt ihren Gegenständen keineswegs bedrohlich nahe, sondern bleibt erschreckend oberflächlich. Die selbsternannte Präparatorin droht also mit dem literarischen Skalpell. Doch dann schneidet sie in den gefährlichen Stoff des Lebens sozusagen mit dem Küchenmesser. Und scheitert am Grundproblem jedes Realismus. Die Exkursion in die kalifornische Wüste scheitert nicht nur in manchem realen Detail, sondern auch programmatisch: "Ich bin mir bewusst, dass der Versuch, die Joshuatree-Wüste im Abendlicht zu beschreiben, zum Scheitern verurteilt ist". Sie stammelt von "Mondampel" und "Farbenspektakel". Doch auch der Rest der literarischen Herausforderung USA entlockt Wolf nicht viel mehr als die touristenübliche Mischung aus "Grauen und Faszination".
Nicht, dass man in diesem Buch gar keine Einblicke gewänne: So wie sie ihr eng mit Gerd Wolf verschränktes Leben beschreibt, denkt man unwillkürlich an die Symbiose eines anderen Künstler-Paares: Christo und Jeanne Claude. Mitunter gelingt ihr ein beeindruckendes Bild: "Oft kommt mir die Geschichte wie ein Trichter vor, in den unsere Leben hineinstrudeln, auf Nimmerwiedersehen, Dinosauriergefühl" schreibt sie in einer Nachbetrachtung zum 11. September 2001. Dann überrascht sie uns mit medizinischen Weisheiten: Den um sich greifenden Antisemitismus nennt sie einen "Bazillus, der sich in unsere schöne heile reiche Welt eingefressen hat und sie von innen her verseucht". Gegen die Neonazis hülfe nach dieser Logik dann nur der Seuchenarzt. Die Wolfs kochen gern gut bürgerlich, erfahren wir in diesem Buch, haben sich aber einen Hang zur Roten Grütze bewahrt. Das ist uns natürlich höchst sympathisch. Doch der kulinarische Tarnname für ihre humanistische Gesinnung entschädigt nicht für dieses fade Oeuvre-Dessert.
Warum Christa Wolf zu einem Zeitpunkt zum Frankfurter Suhrkamp-Verlag gewechselt ist, an dem ein wirklich neues großes Werk nicht absehbar ist, lässt sich schwer sagen. Welcher Autor stünde nicht gern auf dem Olymp der Literatur in einer Reihe mit Theodor W. Adorno, Jorge Semprun, Ulrich Beck und Isabel Allende? Und ließe sich nicht gern noch die minder qualitätsvollen Brocken auf dem Silbertablett nachtragen? Trotzdem ist dieser Drang nach Westen auffällig für eine Autorin, die sonst nicht zu Unrecht vor der Entwertung der Biographien Ost warnt.
Womöglich ist Wolf auch einfach nur einem Anti-Konzern-Reflex gefolgt. Doch nach dem Bruch mit ihrem Berliner Stamm-Verlag Aufbau und dem Intermezzo beim Kölner Verlag Kiepenheuer Witsch hat sie der 2001 zum Random-House-Ableger mutierte Luchterhand-Verlag mit der von Sonja Hilzinger betreuten 12-bändigen Werkausgabe eigentlich nicht schlecht behandelt. Deren Fortführung steht nun in den Sternen. Wird Suhrkamp die Rechte daran kaufen müssen wie Rowohlt im Fall des Suhrkamp-Flüchtlings Martin Walser? Fragen wie diese dürften der notorisch unter "Schuldgefühlen" leidenden Wolf noch manch schlaflose Nacht bescheren.
Einen Gefallen hat sich Ulla Berkewiczs Verlag mit diesem Band nicht getan. Der Auftakt mit der neuen Weltautorin ist alles andere als ein ästhetisches Fanal. Das Buch umgibt nur ein Abglanz des früheren Starlichts. Sein matter Eindruck liegt vor allem an einem grundlegenden Mangel: der betulichen, zagenden Sprache, in der diese Texte abgefasst sind. Die Assoziationsketten zu den Themen Nägel (für Günther Ueckers) und Blau (für Pablo Neruda) sind bestenfalls assoziative Fingerübungen ohne ästhetische Nachhaltigkeit. Und "Erzählungen" sind diese kleinen Reden, Selbstbeobachtungen und verstreuten Notizen beim besten Willen nicht.
Wenn man hört, wie Wolf die Vorliebe ihres Mannes Gerd für "experimentelle Literatur, Sprachexperimente" lobt, kommt einem der Gedanke, warum er nicht mehr geschrieben hat. Hätte man von diesem begabten, unbestechlichen und treuen Unikat, das "von sich absehen kann", wie Wolf leicht stilisierend schreibt, nicht eine kleine verrückte Erzählung in den Band aufnehmen können? Einstweilen bleibt es bei Christas Reste-Küche. Eintöpfe schmecken bekanntlich am nächsten Tag erst am besten. Doch diesem faden Aufguss fehlt zum wirklichen Genuss etwas, was die Autorin in dem besten Text des Buches, einem für ihre Verhältnisse ungewohnt vergnügten Capriccio namens Herr Wolf erwartet Gäste und bereitet für sie ein Essen vor selbst nennt: "der kleine exotische Schlenker".
Christa Wolf: Mit anderem Blick. Erzählungen. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2005, 192 S., 14,80 EUR
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