Geld verbrennen, faule Kredite parken, Schulden mit Schulden begleichen. Was sich in der Finanzkrise für Politik und Ökonomie zum Albtraum auswächst - in der Literatur ist das der Normalfall. Nichts an den Realitäten, die sie vorgaukelt, ist wirklich. Die blühendste Landschaft, die sie zeichnet, ist eine Erfindung. Der realistischste Plot ist ein ästhetischer Wechsel, durch nichts gedeckt als die Phantasie. Was eben noch erdenschwere Realität schien, löst sich im Handumdrehn in weniger als Schein auf.
An solche jähen Wechsel, den plötzlichen Umschlag von Realität in Fiktion, und umgekehrt, fühlt man sich auch in den neuen Geschichten von Daniel Kehlmann erinnert. Eben noch folgt man der 70-jährigen Rosalie auf einer Reise nach Zürich. Die alte Frau ist unheilbar an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt. Bei einer Sterbehilfeorganisation will sie den finalen Schlummertrunk zu sich nehmen. Da wird man Zeuge eines Streits mit ihrem Autor, der die alte Frau mitten in der Geschichte anherrscht: "Du bist meine Erfindung". Das traurige Schicksal einer Todgeweihten verwandelt sich mit einem Satz in ein poetisches Glasperlenspiel.
Die Wirklichkeit überwinden, virtuelle Räume eröffnen, das Unwirkliche der Existenz. In allen Romanen des 1975 in München geborenen Autors finden sich diese Motive. In dem 2001 erschienen Band Der fernste Ort steht der junge Versicherungsangestellte Julian vor dem Spiegel: "Und plötzlich hatte er das Gefühl, daß sie die Plätze getauscht hatten, daß er das Abbild des anderen und nicht dieser seines war, in einer geometrisch umgefalteten Welt".
In Ruhm wiederholt sich diese allmähliche Verwandlung. Kehlmann lässt den Schauspieler Ralf Tanner morgens im Hotel erwachen. Schon am Abend zuvor hatte der sich beim Blick in den Spiegel "mit aller Kraft auf die andere Seite der glatten Fläche hinüber" gewünscht. Nun war ihm so, "als hätte ein Fremder sich in dieses Zimmer verirrt". Zum Schluss nimmt ein Imitator des bekannten Schauspielers seinen Platz ein und Tanner steht als Fan, der dem Promi überraschend ähnlich sieht, vor seiner eigenen Villa und darf nicht herein. Der Identitätswechsel schreitet voran: Jetzt ist Ich wirklich ein anderer.
Auch Kehlmanns neues Werk betört mit seinem federnd leichten Erzählstil. Wieder ist mit Ruhm ein Werk von fast kristalliner Klarheit und Stringenz entstanden. Wie das feine Lächeln der Mona Lisa schwebt über dieser Prosa die für Kehlmann typische Ironie. Sie scheint uns zu sagen: Es ist alles nicht so gemeint. Unwillkürlich geht man auf Distanz, noch zu den scheinbar anrührendsten Schicksalen.
Doch anders als in den beiden Romanen zuvor, der Kunstbetriebssatire Ich und Kaminski (2003) und dem historischen Roman Die Vermessung der Welt (2005) geht Kehlmann in Ruhm ganz nah an die Gegenwart heran. Von der Sterbehilfe über die Esoterik bis zum Kommunikationswahn finden sich so ziemlich alle neuralgischen Punkte der modernen Massengesellschaft in den neun Geschichten, die sich zu einem Roman runden sollen. Probleme bereiten eher Dramaturgie und Personal.
Nun ist nichts einzuwenden gegen Figuren wie Du und Ich. Doch von der moribunden Rosalie bis zur pensionierten Rundfunkredakteurin Maria, die in der Episode Osten während einer Journalistenreise in Usbekistan oder Turkmenistan verloren geht, sind alle Charaktere in diesem Band so karikaturhaft gezeichnete Figuren, dass man sie und ihre Identitätsprobleme schon bald nicht mehr ernst nehmen kann.
Der unerklärliche Rest, die melancholische Unschärfe, die Kehlmanns Figuren bis dato stets umgeben hatte, hat sich in Ruhm aufgelöst. Der internetsüchtige Mollwitz, Angestellter einer Telekommunikationsfirma, der mit einem Monolog beweisen soll, dass sich sein Autor im Chatjargon auskennt, ist so ein Fall. Pappkameraden haben eben keine Geheimnisse.
Natürlich ist das Banale Absicht. Das merkt man schon daran, dass Kehlmann den Verzicht auf jeden reflektorischen Ballast, der seine Werke bis dato ausgezeichnet hatte, in Ruhm aufgegeben hat. Hier rammt er so unübersehbar poetologische Marksteine ins Feld, dass der Roman an ein Manifest erinnert. "Ein Roman ohne Hauptfigur! Verstehst du? Die Komposition, der Bogen, aber kein Protagonist, kein durchgehender Held". Schon in einem der ersten Sätze wird der Leser über die Erzählabsicht informiert, als Leo Richter, "der Autor vertrackter Kurzgeschichten voller Spiegelungen und unerwartbarer Volten von einer leicht sterilen Brillanz" mit seiner Zufallsbekanntschaft Elisabeth, einer Aktivistin der "Ärzte ohne Grenzen", zu einer Reise aufbricht.
Diesem Motto folgt die Struktur des Buches. Die Krimiautorin Maria nimmt an der Journalistenreise nach Osten nur auf, weil Leo Richter die an ihn gerichtete Einladung an sie weitergegeben hat. Mollwitz, der seinem Lieblingsschriftsteller Richter auf einem Kongress begegnet, arbeitet bei dem IT-Unternehmen, die Mobilfunknummern doppelt vergeben hat. Folglich hat der davon betroffene Elbling, der Held der ersten Geschichte Stimmen, das Gefühl, einem Doppelgänger auf der Spur zu sein. Und so weiter und so fort.
Mit einem Wort: Eine Geschichte spiegelt sich in der anderen: "Geschichten in Geschichten in Geschichten. Man weiß nie, wo eine endet und eine andere beginnt! In Wahrheit fließen alle ineinander." Der einzige Fixpunkt, der dieses rhizomatische Geflecht zusammen hält, ist Miguel Auristos Blancos, eine Schriftsteller-Figur, die dem brasilianischen Bestseller-Autor Paul Coelho zum Verwechseln ähnlich sieht. Alle Protagonisten von Ruhm lesen seine Bücher, die Titel tragen wie: Der Weg des Selbst zu seinem Selbst.
Das klingt nach Avantgarde. Ist aber keineswegs neu. Auch nicht bei Kehlmann. Reflexionen heißt in Ich und Kaminski der legendäre Bilderzyklus des Malers Manuel Kaminski, der im New Yorker Metropolitan Museum steht. Auf ihm sind Spiegel zu sehen, die einander in unterschiedlichem Winkel gegenüberstehen: "Grausilbrige Gänge in die Unendlichkeit öffneten sich, leicht gekrümmt, erfüllt von unheimlichem, kaltem Licht". In Ruhm erblindet das Bild der unendlichen Verkettung, das Kehlmann im Kaminski-Roman so nachhaltig gelang. So grob wie er hier seine Geschichten verknüpft, handelt es sich weniger um ein "Spiegelkabinett", wie der Verlag im Klappentext glauben machen will. Eher denkt man an einen Makramee-Teppich aus der Volkshochschule.
Nur mit diesem Motivbild der Postmoderne will es Kehlmann aber nicht bewenden lassen. In seinen neun Geschichten fächert er alle ihre Essentials auf - von der Ethik des Erzählens bis zu den Gesetzen der Konstruktion. So liest sich Ruhm wie eine Gebrauchsanweisung für postmoderne Spieltheorie. Es ist nicht ohne Reiz, wie er Rosalie und ihren Autor Leo Richter darüber streiten lässt, ob die alte Dame vielleicht doch überleben könnte. Auch so, wie ihm die Geschichte mehr als einmal aus den vorgeplanten Gleisen springt, bekräftigt das die gottgleiche Autorität namens Autor so, wie er sie zugleich entzaubert. Und wenn der die leidende Rosalie plötzlich anschnauzt: "Aber du bestehst aus Wörtern. Da ist kein Leidender, da ist niemand!" unterläuft er alle realistischen Erwartungen an die Kunst. Sie ist nicht mehr als die Erschaffung der Welt aus Sprache. Bei der ein Wort des Autors genügt und schon geht es jeder Erfindung wie dem Sterbehelfer. Er ist "verweht zu Staub". Bislang verbarg Daniel Kehlmann die Regeln postmodernen Erzählens hinter einer perfekt gearbeiteten Fassade täuschend lebensähnlicher Geschichten. In Ruhm sind sie nun so überdeutlich, so aufgesetzt, dass einem die klandestinen Luftbuchungen der internationalen Finanzjongleure wie ein Ausweis äußerster Kunstfertigkeit vorkommen.
Daniel KehlmannRuhm. Ein Roman in neun Geschichten. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, 203 S., 18,90 EUR
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