Wie lebt es sich eigentlich im Mittelpunkt der Welt? Mit dieser Ehrfurcht einflößenden Formel hat Jean Baudrillard einmal New York bezeichnet. An ihr stimmt so viel, dass dieser Mittelpunkt, wie sein geologisches Pendant, eine magnetische Anziehungskraft ausübt. Auf, wie man zuletzt am 11. September 2001 gesehen hat, Freund wie Feind. Manch einer würde etwas darum geben, von seiner Zeitung einmal nach New York geschickt zu werden. Nur um da zu leben. Und genau darüber zu schreiben. Aber wenn man Alexander Osangs Berichte aus dem Mittelpunkt der Welt liest, gewinnt man manchmal den Eindruck, die Reise lohne sich gar nicht. Denn die schöne neue Welt entpuppt sich bei einem der bekanntesten Reporter Deutschlands als die Alte. Und die alte als die Neue.
"Die Welt wird amerikanischer" schreibt der 1962 in Berlin geborene Journalist in einer seiner 50, in loser Folge in der Berliner Zeitung veröffentlichten Kolumnen, die er jetzt zu einem Buch zusammengetragen hat. Da befindet er sich noch in Deutschland. Genauer gesagt auf dem Weg zur Toilette in einer Tankstelle. Um zu dem stillen Rückzugsort zu gelangen, muss man sich beim Tankwart einen besonderen Schlüssel abholen. Die nicht zu überhörende Frage nach dem Gerät, an dem nicht zu übersehende Sicherheitsanhängsel baumeln, verraten das Bedürfnis jedes noch so dezent auftretenden Kunden. Der Verlust der Intimität ist nicht das Einzige, was Osang in Deutschland an Amerika erinnert. Sondern auch wenn Gerhard Schröder auf einem Rockkonzert zum Tag der Deutschen Einheit very unbeholfen den leutseligen Populismus eines Bill Clinton nachmachen will.
Vielleicht erklärt diese längst überall spürbare Vermischung der Identitäten den hinhaltenden Widerstand, mit dem Osang sich von Deutschland löst. Und sogar noch die PDS-Kaffeetassen ins Umzugsgepäck kramt. Denn was erwartet ihn schließlich in Amerika? Er trifft Friseure aus Kasachstan. Das riesige, verkäuferlose Kaufhaus Macys in New York kommt ihm wie sein legendäres Moskauer Pendant Gum, der Medienkonzern Time-Warner wie ein schlecht funktionierendes DDR-Dienstleistungskombinat vor. In lichtlosen Conference Malls in Atlanta, die ihn an Kulissen aus Pjöngjang erinnern, muss der Reporter über den Mauerfall berichten. Und das Reservat der Sioux-Indianer zwischen North- und South-Dakota sieht auch nicht viel anders aus als der kolonisierte deutsche Osten. Die Arbeitslosigkeit liegt zwar bei achtzig Prozent. Aber wenigstens dürfen sie ein eigenes Radio betreiben. Bei Osang gleicht nicht nur der Osten dem goldenen Westen oft frappierend, sondern auch der Westen dem Osten.
Das ganz große Andere ist also meist nur das fremde Eigene. Da ist es konsequent, dass sich Osang an Baudrillards Maxime gehalten hat, auf "Amerika als Fiktion" einzusteigen. Peter Handke beklagt in seinem neuen Roman den Verlust der ursprünglichen Bilder an die Serienbilder. Osang steht zu seiner Prägung. Und hat sie ohne jedes kulturkritische Lamento sogar zu seinem ästhetischen Prinzip gemacht. Er hat seine Kolumnen durchgängig mit Filmtiteln versehen. Ständig vergleicht er Alles und Jeden mit Filmszenen. Jurassic Park heißt die Kolumne, in der Osang beschreibt, wie Helmut Kohl im Waldorf-Astoria auf Henry Kissinger trifft. Er ist auch fest davon überzeugt: "Ich glaube, wenn man einen mittelalten, grauhaarigen Mann in Manhattan lange genug anstarrt, sieht er aus aus wie Robert DeNiro". Amerika ist eine cineastische Konstruktion. Was wir von Amerika wissen, wissen wir aus dem Film. Seine imaginäre Erfahrung geht der realen voraus. Gerade deswegen wirkt die Fiktion Amerika von außen oft so nah und fern zugleich.
Osang nähert sich diesem Mythos nicht euphorisch. Sondern skeptisch. Zwar schaut er auf New York aus seinem Büro im 12. Stock, Ecke Fifth Avenue, 42. Straße. Die von oben grandiose Textur der Stadt relativiert er aber konsequent aus dem allerprivatesten Blickwinkel. Von seinem Arbeitsplatz beobachtet Osang oft einen Mann in 200 Meter Luftlinie Entfernung, der in einem Adventskalenderfensterchen des gegenüberliegenden Hochhauses am Schreibtisch gestikuliert. Aus dieser Perspektive wird Georg Simmels "Pathos der Distanz" in der Großstadt zur Melancholie der Distanz. Und Baudrillards reine Utopie Amerika zu einer höchst labilen. Denn was würde passieren, fragt sich Osang einmal beim Spazierengehen, wenn die tausende nur wie lose Zähne in die Fenster geklemmten Klimaanlagen kippten - die Generatoren des wohltemperierten Glücks? Diesem aufmerksamen Beobachter entgehen weder die Gewaltsamkeit noch das Absurde dieser unvollendeten Utopie. Doch durch die fast immer gleich kurzen Kolumnen schnurren ihre Abgründe schnell zur skurrilen Miniatur und auf die zweckdienliche Pointe zusammen. Dennoch sind seine Kolumnen oft Musterbeispiele des beiläufigen Paradoxes. Genauso lakonisch, aber nicht von so erbarmungsloser Schärfe wie die Heiner Müllers - eher entwaffnend hilflos. Denn wie vielleicht kein anderer deutscher Journalist weiß Osang um die prekäre Stellung dieses Berufs zwischen Angst und Größenwahn.
"Ich will nicht so sein, wie ich bin" schreibt er einmal, als ihm seine Frau am Strand einmal vorwurfsvoll entgegenhält: "Typisch deutsch". Osang schreibt wie der Journalist, der darauf hofft, dass er eines Morgens als Schriftsteller aufwacht. Vielleicht ist neben dem radikal subjektiven Blick und der unmerklichen Verwandlung von Soziologie in Geschichtchen diese Hoffnung das entscheidende Kennzeichen der literarischen Publizistik, die Osang so leichthändig beherrscht. Manchmal kann man dieses Spiel mit der Verwandlung mitlesen. Etwa in der Anekdote, wo Osang ein zu großes neues Möbelstück plötzlich wie ein "Sesselpilz" erscheint, der wie ein "toter Elefant" im Wohnzimmer steht. Vielleicht knistern seine Stücke deshalb in dem Seidenpapier der leisen Melancholie. So, wie man wahrscheinlich einfach werden muss, wenn man entdeckt, dass man am Alle und Alles verändernden Mittelpunkt der Welt auch immer irgendwie der Alte bleibt.
Alexander Osang: Schöne Neue Welt. 50 Kolumnen aus Berlin und New York. Ch. Links Verlag, Berlin 2001, 160 S., 14,50 EUR
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