Die Schönheit des Handwerks

Kulturpessimismus Bei den 29. Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt gab es einen kleinen Betriebsunfall

Schönheit, was ist das überhaupt? Etwas Ungeheuerliches, jenseits des Verstandes? Oder tiefsinnig und verwickelt? Als die amerikanische Performerin Laurie Anderson Mitte Juni in Berlin diese Frage stellte, hätte sie das an keinem besseren Ort tun können als am Potsdamer Platz, jener Sonderform der Schönheit unter der Tarnkappe bombastischer Schlichtheit. Die Heroine der internationalen Performance-Avantgarde trug beim "weltklang"-Poesiefestival der Literaturwerkstatt ihr Gedicht Weil es Frühling war vor. Da entstand Schönheit aus einer raffinierten Dialektik: zwischen DaimlerChrysler und Weinhaus Huth, zwischen Mommsen-Eck und Starbucks Coffee konterkarierte sie die Agglomeration des risikofreien Konsumismus mit einer Ästhetik der Reduktion, der Konzentration und des Experiments.

Multimediale Hakenschläger wie Anderson, Grenzgänger zwischen Körper und Text, Gedanke und Strom kann man in Deutschland mit der Lupe suchen. Und selbst im engen literarischen Sinne war es kein Gipfeltreffen der alles wagenden Avantgarde, was sich ein Wochenende nach Andersons Auftritt im österreichischen Klagenfurt zusammen fand. Hatte Anderson auf dem Potsdamer Platz die Geschichte von Hänsel und Gretel als Szenetalk mit einer rot blinkenden Glühbirne im Mund gestammelt, vernahm man bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur im Landesstudio des Österreichischen Rundfunks meist nur verdruckstes Genuschel.

Zwar blitzte bei den 17 Autorinnen und Autoren aus Österreich, Deutschland und der Schweiz, die sich zum 29. Mal in den fensterlosen Raum am Ende einer Sackgasse in Kärntens Landeshauptstadt gezwängt hatten, hier und da forciertes Stilempfinden auf. Der ästhetische Eremit, weltabgewandt und grüblerisch, ist, Gott sei Dank, nicht mehr der beherrschende Typus unter deutsch schreibenden Künstlern. Die Leipziger Schriftstellerin Susanne Heinrich im wallenden weißen Kleid und kajalschwarz umrandeten Augen hätte sicher im Berlin der Zwanziger Jahre Furore gemacht. Und Natalie Balkow mit schickem Jackett und kunstvoll verstruwweltem Britpop-Schopf stammte unverkennbar aus der Berliner Boheme der Jahrtausendwende. Die beiden hielten ganz offenbar nichts von dem Medikament aus der ästhetischen Hausapotheke des Biedermeier, dass der Schweizer Autor Christoph Simon dem Held seines talentierten Schelmenromans Planet Obrist in den Mund legt: "Schönheit ist ein innerer Wert".

Doch mit einer Laurie Anderson hätte höchstens die slowakisch-schweizer Jurorin Ilma Rakusa mithalten können. Die Ästhetik der Polyphonie, Überblendung und Ambivalenz, die die polyglotte Übersetzerin, Lyrikerin und Kritikerin aus Zürich pflegt, fand ihre sinnfällige Entsprechung in der raffinierten Garderobe der zierlichen Frau: einer Art textilen Schichtung wie aus hauchdünnem Pergament. Kerzengerade, die Fingerspitzen in höchster Konzentration gegen einander gepresst, saß sie in ihrem Jurorensessel. Wer die Intellektuelle mit dem scharf konturierten, asymmetrisch geschnittenen Bubikopf in schwarz beobachtete, um deren Mundwinkel ein kaum merkliches Lächeln spielte, musste unwillkürlich an eine russische Mona Lisa denken.

Kosmetische Raffinesse und ein wohltuender Hang zur szenekompatiblen Haute-Couture garantieren freilich noch keinen literarischen Erfolg. Denn die Verfasser der beiden Siegertexte, der Münchener Autor Thomas Lang und die Potsdamerin Julia Schoch, gehörten eher wieder in die Kategorie ästhetischer Zurückhaltung. Damit hätten die beiden Prototypen spröder Unauffälligkeit gewiss Iso Camartin gefallen. Der 1947 geborene Professor für Rätoromanik in Zürich, selbst zwei Jahre lang Jurychef des Klagenfurter Wettbewerbs, hatte die allfällige "Klagenfurter Rede zur Literatur" zu einem zweifelhaften Plädoyer für mehr Stil, weniger Mode und das Ende der "Weltabschreibbemühungen" verwandelt.

Wer in den letzten Jahren den Boom des selbstgenügsamen Realismus popkultureller Prägung mit ansehen musste, konnte eigentlich nichts gegen Camartins Desiderat vom "Siegel der Unverwechselbarkeit" einwenden. Individuelle Handschrift konnte man in der Siegergeschichte des Münchener Autors Thomas Lang Am Seil durchaus nachweisen. Das suspense-Drama über einen Zweikampf von Vater und Sohn auf einem süddeutschen Tennenboden, vom Autor meisterhaft bis ganz kurz vor den endgültigen Absturz geführt, war fraglos ein wirklich gut gebauter Text. Der neue Bachmann-Preisträger macht gern Anleihen beim Film.

Auch Julia Schochs mit dem Preis der Jury gekrönte Geschichte einer märkischen Wissenschaftlerin, der in Südamerika ihre ostdeutsche Vergangenheit abhanden kommt, überzeugte mit einem radikal eigenen Ton der Fremdheit und ungewohnten, verstörenden Bildern. Doch dass man der Prämierung avantgardistischer Offenbarungen beigewohnt hatte, konnte man selbst bei diesen Text-Perlen im literarischen Durchschnittshaufen nicht behaupten. Gemessen an dem furiosen Solitär namens Uwe Tellkamp, der im vergangenen Jahr mit einem Wirbelsturm historischer Perspektiven über Klagenfurt hereingebrochen und als Sieger von dannen gezogen war, glänzte in diesem Jahr in Kärntens schläfriger Metropole vor allem die Schönheit des Handwerks.

Trotzdem blieb Camartins Auftritt ein ärgerlicher Ausfall. Wie wenig man alle unbeschwerteren Bemühungen der jüngeren Literatur in einen Abfalltopf werfen kann, zeigte gerade der Text der 1985 geborenen Leipziger Femme fatale Heinrich. Ein Satz wie "Wir rauchen beim Ficken" hörte sich zwar genau wie die "Befindlichkeitsprosa" an, die Camartin auf dem Kieker hatte. Doch gerade die Gefangenschaft von Heinrichs Protagonisten in einem Kabinett erotischer Selbstbespiegelung ergab hier das ästhetische Surplus.

Und auch der andere Party-Löwe, der 1976 in Hamburg geborene Kristof Magnusson war nicht ohne. Mit lakonischen Dialogen verpasste er seiner Milieustudie aus dem internationalen Love zwischen Reykjavik und Paris zu eine beachtenswerten Mischung: Sie pendelt zwischen absurder Abgründigkeit und humorvollem Oberflächensurfen. Was sollen solche Menschen mit Camartins pedellhafter Ermahnung zum guten Stil und gegen "disziplinlose Launen" anfangen? Stieße man übrigens alle disziplinlosen Genies vom literarischen Olymp, blieben dort wahrscheinlich nicht viel Lord-Stil-Siegelbewahrer übrig. Soll man die ominöse Stiftung "Swissculture", zu deren Präsident Camartin soeben promovierte, bedauern oder beglückwünschen zu ihrem neuen Chef?

Der populistische Flachschuss des gelehrten Stilwächters war freilich nicht das einzige Indiz für eine aufschlussreiche Verschiebung der ästhetischen Fronten. Als die Berliner Autorin Eva von Schirach zum Abschluss des Wettbewerbs ans Lesepult trat und eine verunglückte Versuchsanordnung über die Demütigung der Soap-Hauptfigur Susi Voss zum Besten gab, brach ein Unwetter über sie und ihre Einladerin, die Jury-Vorsitzende Iris Radisch von der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit herein, das man selten erlebt hat am literarischen Wörthersee. Das Entsetzen über die Medienkritik von vorgestern und die Qualität des Textes war unsiono: "So geht das nicht", konstatierte selbst der zum ausführlichen historischen Exkurs neigende Juror Burkhard "Salomon" Spinnen ungewohnt kurz und bündig - ein echter Betriebsunfall in dem an echten Aufregungen eher armen "schönsten Betriebsausflug der Literatur".

Schirach und Camartin. War´s Zufall oder war es Notwendigkeit? Manch einer erinnerte sich noch, wie sich die dreifache Mutter Radisch wenige Wochen zuvor am Rande einer Berliner Podiumsdiskussion zur Medienschelte hinreißen ließ. Mit dem Ausspruch "das verdammte Scheiß-Fernsehen" polemisierte sie gegen dessen vermeintliche visuelle Allmacht: Die Glotze als Quelle unserer Lebens-Vor-Bilder und Lesekiller! Sollte hier, beschlich einen zwei Wochen später in Klagenfurt der Verdacht, einem Wettbewerb, der immer am Rande der Bedeutungslosigkeit balancierte, mit einem programmatischen Fanal neue Relevanz zugeschustert werden? Schwer zu sagen. Zumindest zeigte sich in der doppelten Frontstellung gegen "Flitterkram" (Camartin) und "Bastelbiographie" (Radisch), gegen Medienzauber und Glamour das Unbehagen des älter gewordenen linksliberalen Milieus in und an der Postmoderne. Auch im sonst eher leichtfüßigen Klagenfurt grassiert inzwischen eine kulturpessimistische Sehnsucht nach dem "Eigentlichen".

Trotz solcher Desaster ist der Drang in die Stadt des Lindwurms ungebrochen. Unter Autoren hat das Klagenfurter Literaturgericht zwar oft ein ähnlich gutes Image wie das Haager Kriegsverbrechertribunal bei Peter Handke. So dass die Veranstalter schon zu Beginn die Gäste mit dem Hinweis zu besänftigen versuchten, hier werde keiner "standrechtlich" verurteilt. Das traf auch zu. Aber es fuhr ihrer gefühlten Selbsteinschätzung doch oft mächtig in die Parade. Den literarischen Spaziergang durch Passau des schon mit drei viel beachteten Büchern erfolgreichen Münchener Autors Klaus Böldl verwarf die Wiener Jurorin Daniela Strigl als "Schüleraufsatz von exquisiter Betulichkeit". Damit traf sie einen heimatseligen Zungenschlag vieler Texte. Bei Verdikten wie diesem war in diesem Jahr in Klagenfurt das Schönste noch, der Jury bei der allmählichen Verfertigung eines Urteils, selbst eines negativen, zuzuschauen.

Die einsame Spitze in dieser Neunerrunde behaupten neben dem skeptisch-sarkastischen Klaus Nüchtern vom Wiener Falter unangefochten zwei Frauen. Wenn Ilma Rakusa mit spitzen Fingern die unsichtbaren metaphorischen Fäden aus dem Text zog und seine literaturgeschichtlichen Spurenelemente herauspräparierte, wirkte diese Spitzenklöpplerin der Avantgarde selbst wie ein Kunstwerk. Und wenn die Berliner Kritikerin Ursula März mit leiser, aber bestimmter Ironie den ausufernden Geschmacksstreit zurück auf objektiveres Kategorien-Gelände führte, verbreitete sich mehr als nur interesseloses Wohlgefallen unter den Zuschauern im Saal. Gemessen an diesen Performances knallen bei der Vorsitzenden Radisch verdächtig schnell die Sicherungen durch. In der Hitze des Gefechts lässt die Liebhaberin geschichtsmächtiger Welthaltigkeit allzu oft ihren Idiosynkrasien freien Lauf. Mit der arroganten Wendung "Glasperlenspiel" tat sie Anne Webers schließlich mit dem 3sat-Preis ausgezeichneten, poetischen Essay über den Zusammenhang eines Schweizer Großraumbüros mit der Weltrevolution ab. Doch was ist die Kunst anderes als ein endloses Glasperlenspiel?

Festival oder Wettbewerb? Was ist besser? Weltklang oder Bachmann, Klagenfurt oder Berlin? Wie vielleicht kaum ein anderes Literaturfest hat das Berliner Poesiefestival einer bedrängten Gattung mit einem coolen Outfit neues Publikum erschlossen, ohne die Kunst zu beschädigen. Gemessen an den 11.000 Zuschauern dort agiert das Wettlesen von Klagenfurt trotz 3sat-Live-Ausstrahlung auf einem eher intimen Resonanzboden von vergleichsweise spießbürgerlichem Charme. Doch seine wahre Stärke liegt an anderer Stelle.

Die Begegnung mit so unterschiedlichen Temperamenten und Geistesgrößen der Literaturkritik ist eine Frischzellenkur für den Literaturbetrieb, der allzu oft im kurzatmigen Tagesgeschäft versackt. Weder sollte sich der Medienakteur ORF aus dieser Art Literaturförderung noch aus der Verantwortung für die intellektuelle Kategorienbildung entlassen, wenn er, wie jetzt zu hören war, darüber nachdenkt, den im österreichischen "Bewerb" geheißenen Autorentreff nach dem 30. Jubiläum im nächsten Sommer womöglich einzustellen.

Schönheit ist in diesem Kollektiv der Aufklärung, das seinen Kern bildet, eine vielstimmige Anstrengung. Doch manchmal überfällt einen diese rare Erscheinung auch ganz ohne schweißtreibende Klimmzüge des Geistes. Mit seiner Geschichte Krieg spielender Kinder in Ex-Jugoslawien war der junge bosnischstämmige Sasa Stanisic aus dem Leipziger Literaturinstitut in der Stichwahl der Schlussabstimmung gerade erst ausgeschieden. An seinem strahlenden Gesicht, als ein Manager des Sponsors Kelag ihn dann doch noch mit dem Gewinn des Publikumspreises überraschte, konnte man ablesen: Es gibt auch eine Schönheit des Spontanen.


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