Die Schwerkraft der Moderne

Öffnung Mit der 9. Kunstbiennale und dem neuen "Istanbul Modern" hat die Stadt am Bosporus einen großen Schritt in Richtung europäische Moderne gemacht

Ist Istanbul eine moderne Stadt? Schwer zu sagen. Gemessen an dem Tempo in der 16-Millionen-Megalopole dürfte das Trümmergrundstück der Geschichte an der Spitze einer imaginären Globalisierungs-Skala liegen. Doch in manchen Gassen scheint die Zeit dann plötzlich wieder still zu stehen. Wer sich noch letztes Jahr auf die Suche nach der Moderne machte, landete in einem verstaubten Seitenflügel des Dolmabahce-Palastes der Sultane am Ufer des Bosporus. Gut versteckt zwischen dem Marine-Museum, einer Anlegestelle der Fähre und ein paar Verkaufsständen für Mobiltelefone lag ein Museum: Meist waren die Türen verschlossen, Hülsenfrüchte kauende, des Englischen nicht mächtige Wärter spielten Karten, kaum ein Tourist verirrte sich in die Salons mit den aufgeplatzten Parkettböden, die bei jedem Schritt knarrten.

Wer von einem der grimmigen Aufpasser mit Walkie-Talkie verfolgt durch die verrotteten Prachträume schlenderte, konnte türkische Maler des 19. Jahrhunderts bewundern. Ihre hervorragendsten Protagonisten wie Osman Hamdi Bey führten mit ihren Anleihen beim französischen Pointillismus und Impressionismus, mit der Porträtmalerei später bei der klassischen Moderne die Kunst aus dem osmanischen Ghetto: die moderne Kunst in dem darnieder sinkenden islamischen Weltreich begann als Abklatsch der Moderne.

Dieser frühe Versuch, das europäische Vorbild zu kopieren, ist nun hypermodern untergebracht. Istanbul Modern heißt das neue Zentralhaus für die Kunst am Bosporus. Hinter dem Kürzel, das seit Monaten als knallrotes Plakat alle Ausfallstraßen der Stadt ziert, verbirgt sich ein neues, das erste offizielle Museum für Moderne Kunst der Stadt. Seine Eröffnung im letzten Jahr, zeitgleich mit dem Brüsseler EU-Gipfel, der die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei beschloss, war ein politisches Signal: Seht her, wollte Premier Tayyip Erdogan, der eigens die Eröffnung vornahm, den umworbenen Europäern im Westen sagen: Wir sind so modern wie ihr. Wir haben alles zu bieten, was eure Metropolen ausmacht. In dem binnen Jahresfrist hastig aus dem Boden gestampften Gebäude war aber außer den frühen Epigonen nicht viel zu sehen. Man verhandelte mit dem deutschen Kurator Renee Block über den Ankauf seiner legendären privaten Sammlung. Die Moderne, die das Haus so demonstrativ im Namen trug, war wenig mehr als eine Prätention.

Spätestens seit diesem Herbst ist alles anders in Istanbul. Denn mit der Eröffnung der ersten Großausstellung des Istanbul Modern und der 9. internationalen Kunstbiennale, die zur gleichen Zeit begann, ist der Türkei ein Doppelschlag in Richtung Moderne gelungen, der noch lange nachhallen wird. Nicht, dass es nicht schon vorher moderne Kunst in der Türkei gegeben hätte. Spätestens seit den neunziger Jahren probt die zeitgenössische Kunst besonders in Istanbul einen neuen Auftritt. Auf rund 2.000 Künstler schätzt der Istanbuler Kunstprofessor Ali Akay die Szene. Doch ihr fehlte ein ständiger zentraler Anlaufpunkt, der die Stadt an die internationale Kunstwelt anband.

Zwar gab es schon seit 1987 eine Kunstbiennale, die neben Venedig ständig an Bedeutung gewann. Doch mit Centre of Gravity hat Rosa Martinez, die spanische Direktorin des Istanbul Modern und Kuratorin der diesjährigen Venedig-Biennale, nun in Istanbul eine Epoche machende Ausstellung moderner Kunst kuratiert. Gleichzeitig haben Charles Esche vom niederländischen van Abbemuseum in Eindhoven und sein türkischer Kompagnon Vasif Kortun die Biennale mit einem neuen Konzept symbolisch geöffnet. Wirkten deren Werke bislang in den wohlbekannten Touristenattraktionen der Hagia Sophia, der byzantinischen Zisterne oder dem alten osmanischen Zeughaus Tophane wie in einem orientalistischen Gefängnis müssen die Kunstliebhaber diesmal in ein altes Bürgerhaus im europäischen Stadtteil Beyoglu, eine leere Bank und ein Fabrikgebäude im Händlerviertel Kadiköy pilgern.

Esche/Kortun und Martinez nehmen die Stadt sozusagen von zwei Seiten in den Zangengriff der Moderne. Auf der einen Seite wird der klassische white cube der Moderne gleichsam offiziell in das traditionelle Stadtgewebe implementiert, direkt gegenüber einer aufgegebenen Moschee. Auf der anderen Seite wird der Blick auf drei exemplarische Orte der modernen Stadt gelenkt, dem Hassobjekt islamischer Fundamentalisten. Auf der einen Seite steht ein kühles, kompromissloses Bekenntnis zur Moderne. Martinez ist nicht auf Nummer sicher gegangen. Sie hat sich vielmehr auf äußerste Zeitgenossenschaft eingelassen, aber auf allerhöchstem Niveau. Zwar sind auch "Altmeister" wie Louise Bourgeois oder Jeff Koons zu sehen. Aber die Spanne reicht bis zu Gülsün Karamustafa, einer der Leitfiguren der Repolitisierung der türkischen Kunstszene in den neunziger Jahren oder der indischen Künstlerin Anish Kapoor. So wird die Schau auch zum Symbol einer überfälligen Osterweiterung der Westmoderne, die bislang die Museen und Großausstellungen der Welt dominierte.

Beeindruckt im Modern die kühle Manifestation exquisiter Hochkultur, lockt auf der anderen Seite der Charme der Off-Szene: intelligente Workshops und die Intervention in den Lebensalltag. Welche Provokation dieses bei uns inzwischen etwas überstrapazierte Instrument darstellt, kann man an dem leeren Tabaklager in Karaköy sehen. Die alten Männer in dem einfachen Teehaus nebenan schauen ziemlich skeptisch auf die Besucher, die sich Pawel Büchlers Installation auf dem Dachboden anschauen, wo aus zerbeulten Lautsprechern Textfetzen aus Franz Kafkas Das Schloß dröhnen - eine ebenso irritierende wie Angst einflößende Anspielung auf das ewige Schicksal der Migranten in den Megalopolen, nirgends dazu zu gehören. Gegen Arbeiten wie diese fällt die Vielzahl von Arbeiten ausländischer Künstler ab, die sich dem Leitthema Istanbul eher erwartbar nähern: Videofolgen über die frauenarmen Kaffeehäuser, Bilder der ausufernden Stadtränder, Dokumentationen der illegalen, über Nacht gebauten Gecekondus oder bemühte Vergleiche Istanbuls mit dem Berlin nach dem Mauerfall.

Doch am meisten beeindruckt an dieser Biennale die Schärfe der politischen Kritik der türkischen Gegenwartskunst. Gleich zu Anfang stolpert man in der Antrepo-Fabrikhalle an dem Hafen am Bosporus, wo die Koffertouristen aus Russland und Zentralasien ihre Hehlerware feilbieten, über einen rostigen Fahrstuhl. In seinem Schacht hängen Bilder der Menschen, die bei dem Militärputsch vom 12. September 1980, der sich in diesen Tagen zum 25. Mal jährt, verschwanden oder getötet wurden. Und auch hier ist es Gülsün Karamustafa, der die scharfe, mitunter aber plakative Abrechnung mit dem zentralen Machtfaktor der Türkei, die man überall sehen kann, wirklich poetisch gelingt. Auf ihrem Schwarz-Weiß-Foto stehen ein Mann und eine Frau mit starrem Gesicht in einer Verhörsituation vor Gericht, hinter ihnen zwei Militärpolizisten mit gezücktem Karabiner. Über das Foto wandert ein kaum sichtbarer Lichtkreis aus den Worten: "Ideologie-Bühne-Regime-Kontrolle". Schwer hängt der Schatten des Militärs noch immer über der türkischen Gegenwart. Und doch sagt Karamustafas Bild auch etwas aus über das Schicksal aller politischen Gefangenen dieser Welt.

An Esches Biennale wirkt so besonders befreiend, wie der Realismus sozialdokumentarischer Prägung, der Biennalen und Documentas derzeit so inflationsartig überschwemmt, in den Dienst der Fiktion gestellt werden kann. In der obersten Etage des alten Bürgerhauses Deniz Palaz in Beyoglu wandert man durch die Rekonstruktion der Wohn- und Arbeitsräume einer 1890 geborenen und 1965 gestorbenen Istanbuler Jüdin und Kommunistin namens Sahiyye Behar. Sorgsam, wie in einem Heimatmuseum hat der israelisch-österreichische Künstler Michael Blum ihre Likörgläser auf der Anrichte im Salon, das Kapital von Karl Marx auf ihrem Schreibtisch und ein paar vergilbte Fotos aus dem Familienfundus in einer Vitrine drapiert.

Zunächst hält man die akribisch bis zum letzten Staubkorn täuschend echt gehaltene Installation des 1966 geborenen Blum für die gewagte Dekonstruktion eines Mythos: für den Beweis nämlich, dass der türkische Staatsgründer Atatürk eine bislang verschwiegene jüdische Geliebte hatte. Erst am Ende des Doku-Videos im verdunkelten Nebenraum merkt man, dass ihr Enkel Melik, der auf einer Autofahrt durch ihre letzte Heimat Chicago von dem Schicksal seiner Großmutter berichtet, ein Schauspieler und die ganze Geschichte eine Erfindung ist. Mit diesem virtuosen Balanceakt auf der Scheidelinie zwischen Realität und Fiktion hat Blum vielleicht das schönste Werk der ganzen Biennale geliefert.

Selbst ein Aufsehen erregendes Projekt der wirklichen historischen Aufklärung außerhalb des Biennale-Zirkus verzichtet nicht ganz auf fiktionale Strategien. Auf Istanbuls Magistrale, der Istklal Caddesi, der westlichen Halsschlagader der Stadt, liegen in den Räumen der Foto-Ausstellung, die an die Pogrome gegen die griechische Bevölkerung der Stadt am 6./7. September 1955 erinnert, verdrehte, bunte Stoffballen. Eine poetische Reminiszenz: Vor fünfzig Jahren zerrte der nationalistische türkische Mob jeden Fetzen aus den Tuch-Läden der griechischstämmigen Istanbuler. Die aufgehetzte Presse zog sie für ein angebliches Bombenattentat auf das Geburtshaus Atatürks in Saloniki in Sippenhaft. Die Straße rächte die vermeintliche Schandtat.

Die aktuelle Debatte um den EU-Beitritt der Türkei findet erstaunlich Widerhall in den Ausstellungen. Der türkische Künstler Burah Delier hat die Angst der EU vor einer Vermischung von Orient und Okzident in das ironische Bild einer verschleierten Frau gebannt, deren blaue Burka mit den goldenen Sternen des EU-Banners übersät ist. Eine Künstlerin aus den europäischen Kunsthochschulen, die die Kuratoren nach Istanbul eingeladen und zu Arbeiten vor Ort aufgefordert haben, hat an die traditionelle Hochzeitskette der türkischen Braut statt der Golddukaten die klingende Münze der Verwestlichung gehängt: Am Saum des Geschmeides baumeln jede Menge Euro.

Man mag es als weiteres Zeichen für die Angleichung der weltweiten Kunstszene sehen, dass nun auch die Biennale am Bosporus den anderen Biennalen gleicht und das osmanische Erbe topologisch und formal so konsequent außen vor bleibt. Das heißt aber nicht, dass sich innerhalb der Moderne nicht an diese Tradition anknüpfen ließe. Die fünf Meter hohe, lattengestützte Helix-Spirale des türkischen Künstlers Kemal Önsöy, die Rosa Martinez in einen Raum des Modern gestellt hat, ist ein universales Symbol, eine Matrix des Lebens. Gleichzeitig nimmt das federleichte Werk, das wie eine Wendeltreppe aus übereinander gelegten Styropor-Platten wächst, die Form der gewundenen Treppenstufen auf den Minaretten auf.

Die Istanbuler Doppelausstellung widerlegt westliche Skeptiker, die jede verschleierte Frau gleich als Indiz für den Rückfall in eine islamische Vormoderne sehen. Die Türkei sucht die Moderne. Natürlich scheinen hinter diesem pompös inszenierten Großereignis auch politische Motive und Legitimationsbedürfnisse auf. Centre of Gravity - der Titel der Modern-Ausstellung drückt auch das Ziel der in Stadt wie Staat regierenden AK-Partei aus, die Stadt zu einem internationalen Anziehungspunkt zu machen. Istanbuls Bürgermeister Kadir Topbas verkündete bei der Eröffnung, dass sich die Stadt als "Kulturhauptstadt Europas" bewerben wird. So oft wie er zur Eröffnung die Worte "Vielfalt der Kulturen" und "internationale Kooperation" intonierte, scheint er aber mit diesem vehementen Engagement in Sachen Ästhetik eher die Bedürfnisse der neuen muslimischen Bourgeoisie auf die Integration in den globalen Kapitalismus im Auge zu haben, die seine Partei repräsentiert, als die raffiniert getarnte Wiedereinführung des islamischen Bilderverbots.

Die türkische Schriftstellerin Buket Uzuner ist skeptischer: "Man darf nicht vergessen, dass die Kunst kaum eine Rolle im alltäglichen Leben spielt. Von diesen Männern hier" sagt sie beim nachmittäglichen Gespräch in einem traditionellen Teegarten direkt hinter dem Modern, wo die Männer auf den Kissen liegen, Wasserpfeife rauchen und sich die Zeit mit Brettspielen vertreiben "wird da kaum einer hingehen". Doch eine wenn auch noch so kleine Stecknadel im Heuhaufen ist besser als keine. Die Denkanstöße der Kunst entfalten ihre eigene, unkalkulierbare Kraft. Spätestens seit diesem Herbst unterliegt die Stadt der schwer zu entgehenden Anziehungskraft der Moderne.

Istanbul. 9th International Istanbul Biennial. Noch bis zum 30. Oktober, Katalog 15 YTL

Centre of Gravity. Istanbul Modern. Noch bis zum 8. Januar. Katalog 60 YTL


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