"Aus diesem Land geht man weg, vorübergehend und für immer". Wo immer man die Essays Juri Andruchowytschs aufschlägt, trifft man auf Sätze wie diesen. Nirgends macht sich der 1960 geborene, ukrainische Schriftsteller Illusionen über die Stimmung in seiner Heimat: Chaos und Leere, Spaltung und Vermischung. Die Deutschen mögen geschlagen sein mit ihrem Ost-West-Konflikt. Doch was sind deren Konflikte nach 40 Jahren Trennung gegen das Schicksal der neuen Ukraine? Es scheint, als ob eine strafende Geschichte alle ihr zu Gebote stehenden Extreme auf das Land am Schwarzen Meer geworfen hätte. Wie in einer Zentrifuge wird dort alles in rasender Beschleunigung durcheinander gewirbelt: Sprache und Kultur, Staat und Gesellschaft, Vergangenheit und Zukunft Ost und West. Gibt es noch eine Rettung für dieses Land?
Wer in diesen Tagen Andruchowytschs Roman Zwölf Ringe in die Hand nimmt, trifft in seinem ersten Roman auf das ganze Personal, das derzeit das Bild von der Ukraine prägt: geflüchtete Sexsklavinnen und Bodyguards mit Knopf im Ohr, die alten Sowjetkader und die neuen Unternehmer mit Mobiltelefonen, sogar Politiker, die so plötzlich von der Bildfläche verschwinden wie der kürzlich tot in seiner Kiewer Datscha aufgefundene Innenminister Krawtschenko.
Man sieht die illegalen Fernlaster an den Grenzen nach Transsylvanien - ein Land in ewigem Transit. Gegen Ende des Romans schleudert selbst der österreichische Sonderling Karl-Joseph Zumbrunnen, Fotograf aus Wien, Symbol des so einsam wie euphorisch an den Ländern im Osten interessierten Westlers, seiner ukrainischen Geliebten Roma, der frustrierten Frau des gescheiterten Schriftstellers Artur Pepa, wütend entgegen: "Die meisten von Euch träumen doch nur davon, in den Westen zu entkommen."
Trotzdem ist Andruchowytschs Roman etwas ganz anderes als das Buch zur Ukraine der postsowjetischen Depression und schleichenden Auflösung. Ein unbekannter Erzähler setzt acht "Helden" in dem "Wirtshaus" Auf dem Mond in den Karpaten im äußersten Südwestzipfel der Ukraine, in Sichtweite der Grenze zu Rumänien ab. Wer Andruchowytschs Essayband Das letzte Territorium gelesen hat, kennt diese Herberge. Sie gleicht jener verwunschenen Ruine zum Verwechseln, die der Schriftsteller einmal beim Streifzug durch die Karpaten entdeckt und in seiner "fiktiven Landeskunde" Carpathologica Cosmophilia beschrieben hat: "Bauwerk und Traumwerk zugleich - eine Arche, ein Komplex, also ein Ort für Beobachtungen, Feststellungen, Betrachtungen".
Dass Andruchowytsch seinen Roman an diesen phantastischen Ort verlegt, ist zunächst einmal eine symbolische Standortwahl allerersten Ranges. In den Ostkarpaten liegt zwar das geographische Zentrum Europas. Trotzdem gilt der eher unbekannte Gebirgszug als Randgebiet. Dort steht nun die Bühne für ein Endspiel um Liebe und Tod. Nach seiner Charakterisierung in den Essays kann es nicht verwundern, dass in dem Gemäuer kein herkömmlicher Roman seinen Lauf nimmt, sondern eher etwas wie eine Collage. Zwar gibt es eine Rahmenhandlung: Der Regisseur Jartschyk Magierski soll dort einen Werbespot für das Kosmetikprodukt "Warzabytschs Balsam" drehen. Und zwar in den Kostümen der Huzulen, jenes geheimnisumwitterten Urvolks der Ukraine. Diesem Szenario für die Einverleibung der genuinen Kultur in den globalisierten Konsumismus stellt Andruchowytsch ein Kapitel über den verfemten Dichter der ukrainischen Moderne, Bohdan-Ihor Antonytsch aus Lemberg, entgegen. So erinnert er an die jüdisch-galizische Tradition aus der Habsburgerzeit, schließt sie aber auch mit der Realität der Übergangsgesellschaft kurz. In der Ukraine existiert eben alles nebeneinander.
Diese kritisch-ironische Überblendung ist nicht der einzige Hinweis auf ein postmodernes Verfahren. Im Roman ist die Ruine aus den Essays zunächst eine kakanische Meteorologiestation, dann ein Militärposten der Polen, schließlich mutierte es in der Sowjetzeit zu einem Sportinternat für Jugendliche. Dieses seltsame Haus, halb kafkaeskes Schloss, halb surreale Geisterbahn, eine Wunderkammer, vollgestopft mit den absonderlichsten Gegenständen muss man als Sinnbild für die "Überlagerung der Kulturen" und der "seltsamen Vermischung der Zeiten" in diesem Land lesen - Eigenschaften, in denen der Mann aus der östlichen Vormoderne eine unerwartete Nähe seines Landes zu einer westlichen Modekrankheit entdeckt hat. Das hybride Monster Ukraine - ein Sammelsurium der Zeichen.
In dem Spiel mit den "Ziegeln des Seins", das ihm seine Bruchstücke-Realität geradezu aufzwingt, beherrscht Andruchowytsch auch die ganze postmoderne Klaviatur von der Volkssprache bis zur Geistesspekulation. Der Mitbegründer der avantgardistischen Literaturgruppe "Bu-Ba-Bu" kann über russischen Gangsterpop genauso räsonnieren wie über Existentialphilosophie. Jäh lässt er seine Helden vom Traum des Kirschbaums der Kindheit in die Realität eines riesigen Autofriedhofs mitten in den Bergen stürzen. Und nirgends lässt er einen Zweifel, wer Herr des Geschehens ist: "Ich bin der Autor", schmettert dieser unsichtbare Lenker Artur Pepa in einem seiner zahlreichen Albträume entgegen - zum gelben Flimmern auf einem Monitor in einem Verließ abstrahiert.
Eine englische Zeitung hat die Ukraine einmal ein "bedauernswertes Land" genannt. Übersetzt heißt Ukraine nichts weiter als "am Rand". Anders als viele seiner Landsleute hat sich Andruchowytsch entschlossen, "mein Territorium, meine verdächtigte und geringgeschätzte Welt" nicht zu verlassen. Auch wenn er zum Dauergast der Buchmessen und Kolloquien im Westen avancierte, blieb er immer der Bürger des kleinen Städtchens Iwano-Frankiwsks in der Westukraine, das früher einmal Stanislau hieß: "Ich habe keinen anderen Ausweg", schreibt er in seinen Essays, "als diesen Streifen, diesen Flecken, diese Flicken zu verteidigen, die nach allen Seiten zerfasern."
Nach der Lektüre von Zwölf Ringe muss man sagen: Die Verteidigung dieses Territoriums hat sich gelohnt. Mit der "Revolution in Orange" und diesem Stück Literatur ist die Ukraine zu einem bewunderungswürdigen Land geworden. "Europa - das verschobene Zentrum" sollte die Ausstellung heißen, die Andruchowytschs ukrainesüchtiger Protagonist Zumbrunnen in Österreich ausrichten wollte. Das Buch seines Erschaffers ist nicht nur genau das, was Andruchowytsch über den Umbruch in der Ukraine gesagt hat: eine "Explosion in Kreativität". Es ist auch eine glanzvolle Demonstration dessen, wie man das scheinbar Randständige als Zentrum behauptet, sich ästhetisch an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zieht und die Peripherie zur avantgardistischen Attraktion macht. Zwölf Ringe ist kein Roman nach Brüsseler Norm. In diesem Musterbeispiel des postmodernen Heimatromans offenbart sich ein weltoffener provinzieller Eigensinn, an dem sich das homogenisierungssüchtige EU-Europa noch seine Freude haben wird. Mit diesem furiosen Patchwork aus Mythos und MTV, aus Hochliteratur und Massenkultur ist die europäische (Post-)Moderne ein Stück nach Osten gerückt.
Ein Glück, dass die Schleuser des Suhrkamp-Verlags diesen Vertreter einer marodierenden Intelligenz nach Deutschland lotsen konnten. Man bekommt direkt Lust, selbst in das Land zu gehen, aus dem so phantastische Literatur kommt.
Juri Andruchowytsch: Zwölf Ringe. Roman. Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2005, 300 S., 22,90 EUR
Juri Andruchowytsch: Das letzte Territorium. Essays. Aus dem Ukrainischen von Alois Woldan. edition suhrkamp 2446, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2003, 192 S.,
10 EUR
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