Wenn Sie nach Triest kommen", so verabschiedete mich einmal eine österreichische Hotelbesitzerin vor der Weiterreise nach Italien, "müssen sie sich unbedingt das Schloss Belvedere anschauen. Ein schönes österreichisches Schloss". Nicht, dass es nicht nahe liegen würde, bei Triest an Österreich zu denken. Immerhin war die Stadt an der Adria seit 1719 Jahre der einzige Hafen des küstenlosen Reiches im europäischen Binnenland. Aber an dem Fremden interessiert offenbar immer noch am meisten das Eigene.
In Triest selbst dachte man an Österreich mit gemischten Gefühlen. Der 1888 geborene triestinische Dichter Scipio Slataper schrieb in seiner lyrischen Autobiographie Mein Karst von 1912: "Und so betete ich für mein schönes Italien ... Ich fühlte das Vaterland hoch und heilig". Der Anhänger der Irredenta, der Bewegung, die für die Heimholung des "unerlösten" Landes in die italienische Heimat eintrat, steht Auge in Auge mit österreichischen Gendarmen, die proitalienische Demonstrationen gewaltsam auflösen. Am liebsten wäre er, schreibt er, wie der Triestiner Kaiser-Attentäter Oberdank gestorben. 1915 fällt er für Italien durch die Granate eines bosnischen Soldaten. Und doch muss man Slatapers berühmtestes Werk Il Mio Carso als Beispiel der literarischen Überwindung eines engstirnigen Nationalismus sehen.
In seinem Studienort Florenz wird der junge Slataper zum Ankläger seiner Heimatstadt. In der Zeitung La Voce veröffentlicht er 1909 seine fünf berühmten Briefe. Darin nennt er Triests Kultur selbstgefällig und substanzlos. Das italienische Milieu sieht er zwar als ihre Basis. Doch ohne den österreichischen Geist der Ökonomie könne die Stadt auch nicht leben. Diesen Gedanken der "doppelten Seele" erweitert er um einen dritten Pol. Symbol dafür wird ihm jenes nahe Gebirge, das die Grenze zum Osten markiert. Deshalb beginnt der Text des italienischen Städters, der die "Entwicklung einer Seele" schildern will, mit der programmatischen Lüge: "Ich möchte euch sagen: Im Karst bin ich geboren." In La Voce schreibt Slataper, "dass die historische Aufgabe von Triest darin besteht, Kreuzungspunkt und Verbreiter von drei Zivilisationen zu sein" - der deutschen, der italienischen und der slowenischen. Für den triestiner Germanisten Claudio Magris wird Slataper damit zu dem Schriftsteller der Stadt der das Problem der slawischen Bevölkerung am schärfsten erfasst.
Slatapers Mein Karst ist vieles: Es ist ein typisches Dokument der Zerrissenheit des Individuums am Ausklang des fin de siècle: Das lyrische Ich flieht die Zivilisationshölle am Meer ins kaum eine Stunde entfernte Gebirge, um dort eine Art panisches Aufgehen in der Natur zu erleben: "Ich kannte den Boden wie die Zunge den Mund". Ameisen und Steine, Gräser und Felsen: "Alles war mir Bruder". Die Reinheit der Heimat des slawischen Barbaren wird ihm zur Läuterungsort: "Karst, wie bist du hart und gut!" Doch im nächsten Atemzug kehrt Slataper zurück ans Meer und schreibt: "Das ist meine Stadt. Hier fühle ich mich wohl." Dieses Fragment einer ewigen Suche nach dem Selbst, zwischen Leben und Tod, Einsamkeit und Geselligkeit schwankt zwischen Kindheitserinnerungen, erotischen Bekenntnissen und philosophischen Betrachtungen - ein Stück Postmoderne vor der Postmoderne.
Slatapers martialisch-schwärmerische Diktion, seine rassistische Sprache sind uns heute fremd. Zwar benutzt er das triestiner Schimpfwort S´ciavo für die ungeliebten Slowenen wie eine Auszeichnung. Doch in einer Art Vorahnung des clash of civilizations ruft er ihnen zu: "Denn Du bist Slawe, Sohn der neuen Rasse ... Es ist Zeit, dass Du Herr bist". Slataper will den ermatteten Geist Italiens mit einem imaginierten slawischen Genie stählen. Trotzdem bleibt er mit seiner Ode die erste italienische Stimme des Karstes und damit ein Pendant zum slowenischen Dichter Srecko Kosovel. Die Ausgrabung dieses Juwels der europäischen Literatur ist dem Pionier des literarischen Ost-West-Dialogs, Lojze Wieser, und seinem kleinen Verlag in Klagenfurt zu danken. Am Vorabend der EU-Erweiterung liest man diesen Text, der die "geheimnisvolle Unbestimmtheit" des Karsts mit seinen Weinhecken und schiefen Mauern beschwört, liest man das romantische Staccato einer zerrissenen Stadt-Seele, die Holzfäller in Kroatien werden will, als mitreißenden Versuch der Aneignung des Fremden.
Scipio Slataper: Mein Karst. Mit einer Auswahl autobiographischer Prosa. Herausgegeben, aus dem Italienischen übertragen und mit einem Nachwort versehen von Ilse Pollack. Wieser, Klagenfurt 2000, 224 S., 12,95 EUR
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