Was ist eigentlich ein Migrant? Jene Figur, die im Lexikon als "Subjekt der Migration" bezeichnet wird? Ein Mensch, der sein Zuhause verlässt und in der Fremde keine Heimat findet? Man kann die Bücher von Emine Sevgi Özdamar, die jetzt mit ihrem Autorenkollegen Feridun Zaimoglu um das geistige Eigentum streitet, als Reflexion der Auswanderung lesen. In Ihrem Roman Die Brücke vom goldenen Horn wird der jungen Protagonistin deutlich, "wie weit weg aus der Türkei" sie war, als sie abends bei dem Arbeiter Hamza in Berlin auf das weiße Fett kalt gewordenen Lammfleischs blickt.
Auf den ersten Blick passen beide Bücher der Kontrahenten durchaus in die Schublade der Migrantenliteratur. Sowohl Zaimoglus Roman Leyla wie auch Özdamars 14 Jahre älteres Buch Das Leben ist eine Karawanserai hat zwei Türen aus der einen kam ich rein aus der anderen ging ich raus beginnen in der anatolischen Kleinstadt Malatya und führen über die Umwege Ankara, Bursa und Istanbul bis nach Berlin. Doch auch wenn die 1946 geborene Özdamar und den 1964 geborenen Zaimoglu derzeit vieles trennt, dann verbindet sie doch die gemeinsame Sprache. Sie schreiben nicht auf türkisch wie der 1933 geborene Bekir Yildiz, der seine frustrierenden Erfahrungen als "Gastarbeiter" in Heidelberg zu Beginn der sechziger Jahre noch zuerst in Istanbul veröffentlichte und dann übersetzen ließ. Sie schreiben auf deutsch. Am ehesten hat den klassischen Migranten-Status vielleicht noch der 1961 geborene Autor und Essayist Zafer Senocak hinter sich gelassen. Auch wenn sich solche Motive auch in seinem literarischen Werk finden - um seine brillanten Essays dürfte Senocak mancher deutsche Autor beneiden.
Derlei Ausdifferenzierungen werden hierzulande kaum wahrgenommen. Als Sinnlichkeitsreserve der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur werden Protagonisten wie Özdamar gerne "integriert". Im Krisenfall brennen dann wieder die Sicherungen durch. Da sind dann alle wieder "Migranten". Da spricht man vom türkischen Literaturkrieg in Deutschland, als ob sich türkische Banden bekriegten. So rückt man schnell wieder auf Distanz, was sonst als Ausweis eines bunteren Deutschland präsentiert und beim Kreuzberger "Karneval der Kulturen" im Geiste der einen menschheitsverbrüdernden Multikultur umarmt wird. Dann spricht man von Menschen, die gut vierzig Jahre hier leben, fast wieder wie von den "Exoten" der ersten Stunde.
Hierzulande hat es sich offenbar noch nicht herumgesprochen, dass die Wertschätzung Özdamars im Ausland beispielsweise nicht etwa nur auf der Migrantenthematik gründet. Die amerikanische Zeitschrift Publishers Weekly zählte ihr Werk Mutterzunge 1994 nicht deswegen vor zu den 20 wichtigsten Büchern des Jahres, weil sie darin die Lebensbedingungen der türkischen MigrantInnen so genau dokumentiert oder weil sie so "türkisch" schreibt. Özdamars Prosa bewegt sich zwischen Surrealismus, absurdem Theater und Groteske. Sie arbeitet mit einer filmischen Technik. Doch ihre Bilder wie "der Regen kam wie tausende leuchtende Nadeln herunter" bleiben reine Poesie. Wegen dieser Ästhetik wurde sie weltweit übersetzt. Deswegen verehrt die Kleist-Preisträgerin in den USA inzwischen ein eigener Fan-Club.
Die Ethno-Brille verwundert gerade bei einem Autor wie Feridun Zaimoglu. Nicht nur weil er knapp 20 Jahre jünger als Özdamar ist. Sondern auch, weil er sich kulturell am weitesten auf die europäische Erzähltradition zubewegt hat. Mit seinen Protokollen der "Kanak-Sprak", jenem binationalen Rotwelsch der Ghettokids hatte der literarische Bürgerschreck noch die hiesige Mehrheitsgesellschaft geängstigt. Ganz nebenbei ließ er damit die Fiktion einer homogenen deutschen Leitkultur platzen (an der jede Rechtschreibreform auch in Zukunft hoffnungslos zerschellen wird). Doch dann musste es unbedingt der klassische Autor sein. Schon mit dem 2000 veröffentlichten Roman Liebesmale, scharlachrot begann Zaimoglu zielsicher eine tief verwurzelte Erwartungshaltung zu bedienen. Die Kritik entdeckte in dem Briefwechsel zwischen zwei jungen Kanakstern aus Kiel Parallelen zum Werther. Aber Zaimoglu, der bekanntlich ungern Vorbildern nacheifert oder sie gar kopiert, will seinen Goethe nie gelesen haben, sondern nur Psychothriller.
Der vorläufige Gipfel dieser Strategie der kulturellen Angleichung ist der Roman Leyla. Das vom Verlag mit Floskeln wie "epische Kraft" beworbene Werk macht motivisch eine große Rolle rückwärts hinter das Kanakthema: Finsteres Anatolien kommt eben besser. Und auch sprachlich ist das Buch ein so exemplarisch mitteleuropäischer Mainstream, dass die interkulturellen Episoden Özdamars, vom gleichen Verlag mit den schönen Worten "orientalischer Bildungsroman" beworben, dagegen plötzlich wie Experimentalprosa aus der europäischen Nachkriegs-Moderne wirken, jedenfalls mehr Godard als Sheherazade.
Über all das beugten sich die literarischen Kriminalisten wie über die Indizien einer türkischen Stammesfehde. Viele der Stellen aus Zaimoglus Leyla, die den Stellen aus Özdamars Karawanserai so ähnelten, urteilten sie, seien gar kein Plagiat. Vielmehr schöpften beide Autoren aus dem "tradierten kulturellen Wissen" der Region. Das klingt so schön kulturwissenschaftlich, irgendwie unanfechtbar. Mutet bei genauerem Hinsehen aber einigermaßen schräg an. Der Befund mag für das von beiden Schreibenden verwandte Bild von der Spinne, die die Seele der verstorbenen Familienangehörigen repräsentiert, noch angehen. Doch wenn, was ebenfalls in beiden Romanen vorkommt, türkische Mädchen vom Fenster aus vorbeigehende Männer beschimpfen oder sich der Vater mit einem Klappspiegel beim Frühstück beobachtet, was ist daran spezifisch türkisch? Sie wollten Zaimoglu verteidigen. Doch was die deutschen Kritiker auch signalisierten, war: Was türkische Bräuche, was türkische Mythen sind, das bestimmen wir. Spätestens da mutierte der "Türkenkrieg" zum Neoorientalismus - made in Germany.
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