Eine undurchsichtige Größe

Dunkelkammer Seit 30 Jahren demonstrieren die Solothurner Literaturtage mit Erfolg, wie man eine literarische Öffentlichkeit aufbauen und entwickeln kann

Wie kommt eigentlich die Wirklichkeit in die Literatur? Manchmal per Zufall. Zum Beispiel so: Die Schweizer Schriftstellerin Verena Stefan sitzt mit einer Freundin im Cafe. Als die ihr das Wort "Fremdschläfer" aus der Zeitung vorliest, wird sie hellhörig. Eigentlich wird im Schweizer Asylrecht mit dem seltsamen Wort ein Asylant bezeichnet, der nicht in der ihm zugewiesenen Unterkunft schläft. Je intensiver sie über die Vokabel nachdenkt, desto mehr Bedeutungen öffnen sich ihr: mit Fremden schlafen, in der Fremde schlafen. Plötzlich löst sich, was vorher konkret war, in Gemütszustände auf. Und schon hatte Stefan mit einem Zufallsfund aus dem echten Leben den Titel für ihren letzten Roman, in dem eine Frau aus der Schweiz ein neues Leben in Kanada beginnt.

Solothurn im Schweizer Mittelland, wo Stefan am vergangenen Wochenende die kleine Anekdote zum Besten gab, ist eigentlich kein Platz für poetologische Hauptseminare. Bei den Literaturtagen, die jedes Jahr pünktlich zu Christi Himmelfahrt in der Hauptstadt des gleichnamigen Kantons stattfinden, setzt man auf die sinnliche Nähe zur Literatur, auf Lesen und Zuhören, auf Gespräche und Begegnungen - und alles auf ganz engem Raum. Und doch hatte man das Gefühl, dass die in Deutschland entbrannte Debatte um die Frage, wie viel Wirklichkeit in der Literatur steckt und wie viel davon ihr bekommt, auch die Schweiz erreicht hat.

Ob die Zürcher Autorin Susanna Schwager von dem Stoff sprach, "der mir gesagt wird, nicht einer, der mir einfällt". Ob der jüngste Schweizer Theaterstar, der 1978 geborene Zürcher Dramatiker Simon Froehling seine Stücke in der allerzeitgenössischsten Kulisse von Bars und Clubs situiert. Oder ob der 1929 in Bern geborene Paul Nizon seit Jahr und Tag unzählige Suhrkamp-Bände mit seinen Arbeitsjournalen füllt. Beim Schreiben gehe es darum, so definierte es der 79-Jährige, eine Literaturlegende, die heute in Paris lebt, "Wirklichkeit in der Literatur lebendig zu machen".

Dass in Solothurn so intime Geständnisse über Ingredienzien, Risiken und Nebenwirkungen der Literatur möglich sind, spricht für die 1979 gegründeten Literaturtage. Hier wird Literatur nicht in der Seifenblase der Eventkultur vorgeführt. Hier regieren einmal nicht die DJs, Sponsoren und VIPs. Am Ufer der graugrünen Aare steht hier ein schmuckloses Landhaus aus dem 18. Jahrhundert, in dem ein paar Schemel stehen, davor die blanken Holzbänke einer Genossenschaftskneipe namens Kreuz. Beobachter wollen wissen, dass Adolf Muschg seit 30 Jahren in demselben grauen Anzug nach Solothurn fährt. Wenn Guy Debord Solothurn gekannt hätte, seine Analyse der "Gesellschaft des Spektakels" wäre nicht so schonungslos ausgefallen.

Glam-Addicts mag das verstaubt vorkommen. Doch so behutsam, wie in Solothurn die literarische Öffentlichkeit gepflegt wird, sollte man das nicht mit provinziell verwechseln. Mit schon fast sturer Beharrlichkeit setzen die Programmmacher auf Nachhaltigkeit und Entschleunigung. Sie laden bewusst Autoren ein, deren letztes Buch schon zurückliegt. Monika Maron füllte mit ihrer Lesung aus Ach, Glück genauso mühelos den großen Saal wie der junge amerikanische Bestsellerautor Nathan Englander, als er seinen Roman Das Ministerium für besondere Fälle vorstellte. Und wenn die Solothurner Experimente wagen, dann, wenn sie der Literatur und nichts als der Literatur nutzen. Der Darkroom von Solothurn heißt "Dunkelzelt". Wer, von Blinden- und Sehbehinderten geführt, in dem nachtschwarzen Zelt einem Hörspiel des Winterthurers Michael Stauffer lauschte, lernte die innere und die äußere Stimme eines Textes besser auseinanderzuhalten als ihm das schwarz auf weiß gelingt.

Noch ein Vorteil des Barockstädtchens am Südfuß des Jura: Hier spürt man die Dialektik von Peripherie und Metropole intensiver als in den urbanen Hotspots. Wer Arno Camenischs experimenteller Lyrik auf rätoromanisch - der vierten Sprache der Schweiz - hörte, fiel es wie Wachs aus den Ohren, dass Avantgarde kein Vorrecht der Metropole ist. Und wer die junge Kubanerin Wendy Guerra, die gerade mit ihrem Kuba-Roman Alle gehen fort für Aufsehen sorgt, in einer Lesepause in dem mittelalterlichen Gebäude auf ein Notebook hacken sah, ahnte etwas von den Kulturbrüchen, die inzwischen auch das abgeschiedene Solothurn durchziehen.

Politik ist vielleicht eine der härtesten Formen von Wirklichkeit. Auch in der Schweiz ist sie in der Literatur angekommen. Zum ersten Mal trat mit Innenminister Moritz Leuenberger von den Sozialdemokraten ein waschechter Politiker in Solothurn auf. Der frischgebackene Autor eines Bändchens über Wahrheit und Lüge in der Politik lieferte sich einen Schlagabtausch mit dem poetischen Lügner Peter Stamm. Und als der 1934 geborene Adolf Muschg, Doyen der Schweizer Literatur, und der 1971 geborene Zürcher Autor Lukas Bärfuss, ihr selbsternannter Rebell, darüber stritten, ob gute Literatur allein schon etwas erreichen könne in einer Welt, die in Armut und Hunger unterzugehen droht, schrieben die beiden ein neues Kapitel in dem unendlichen Roman "Darf Literatur sich einmischen?"

Bärfuss steht mit seinem neuen Roman Hundert Tage, der im Ruanda des Genozids spielt, gleichberechtigt neben seinem in Solothurn beklatschten deutschen Kollegen Ulrich Peltzer, eloquenter Moralist der eine, ironischer Analytiker der andere. Auch der schwer politische Nathan Englander wurde von den bedächtigen Schweizern mit Sympathie empfangen. Zehn Jahre will er für sein neues Werk recherchiert haben, das die Militärdiktatur in Argentinien zum Thema hat. Wo in diesem Gebirge aus Fakten die "Macht der Fiktion" steckt, die der 38-jährige Autor beschwor, wird man sehen, wenn das Werk diese Woche in den Handel kommt. Denn aus noch so viel Wirklichkeit wird erst dann Literatur, wenn etwas von dem hinzukommt, was Paul Nizon den "Pulsschlag des Kunstwerks" nannte, der erst die Realität überwindet, von der alle "verschlungen und zerrieben" werden. Doch überhaupt - was heißt eigentlich schon Wirklichkeit? Die, beschied der nervöse Intellektuelle mit einer Hornbrille, die Jean-Paul Sartre Ehre gemacht hätte, seine Zuhörer kühl, sei ohnehin "eine undurchsichtige Größe".

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