Eine unter zu vielen

Ein Moment der Selbstkritik könnte nichts schaden Die documenta droht, im Allerlei des Kulturbetriebs zu versinken

Territorium Artis. So hieß die Schau, mit der 1992 in Bonn die Bundeskunsthalle ihre Tore öffnete. In der alten Hauptstadt, gegenüber von Bundestag und Kanzleramt, markierte der Gründungsintendant des Hauses, der Schwede Pontus Hulten, mit großer Geste ein Terrain mit eigenen Gesetzen. Selbstbewusst stellte der greise Ausstellungsmacher, ein Weggefährte Pablo Picassos und Niki de Saint Phalles, dem Territorium der Politik das Territorium der Kunst gegenüber. Von Kandinsky bis Jeff Koons reichte der Parcours der Meisterwerke des 20. Jahrhunderts. Und der zuckerhutbewehrte Bau Gustav Peichls wirkte wie die Zitadelle dieses gewaltigen Terrains.

Die Machtdemonstration von damals wirkt nachgerade ärmlich gegen das Territorium Artis heute. In den 16 Jahren seit der Schau hat es sich noch weiter ausgedehnt. Die Zahl der Häuser und Messen ist geradezu explodiert. Berlin feiert den Abschied seines obersten Museumschefs mit zehn Großausstellungen von Klee bis Koons. Weltweit konkurrieren über 200 Biennalen um die Gunst des polyglotten Kunstpublikums. Inzwischen gehen mehr Menschen in Kunstmuseen als in Fußballstadien. Kunst übernimmt in der modernen Massengesellschaft die Rolle der Religion, wird zur profanen Andacht.

Diesem Weltreich droht nun, was der amerikanische Politologe Paul Kennedy einmal den großen politischen Imperien vorausgesagt hatte. Im overstretch seiner Potentiale scheint es seine spezifische Macht zu verlieren: In der Flut der Ausstellungen verschwindet das einzelne Werk, die solitäre Schau. Der britische Künstler Damien Hirst gibt das lebende Beispiel dafür ab, wie sich die Kunst dabei in einen Zwitter zwischen Markt und celebrity verwandelt hat. Ohne eigene Etats können die öffentlichen Museen den schleichenden Kategorienverlust kaum korrigieren - die großen Sammler und Mäzene dominieren das Geschehen. In dieser Situation sollte sich die neue documenta-Leiterin, Carolyn Christov-Bakargiev, nicht damit begnügen, 2012 nur eine besonders professionelle Schau hinzulegen. Denn das war offenbar das Kalkül bei ihrer Kür zum Kopf der immer noch wichtigsten Kunstausstellung der Welt.

Die 1957 in New Jersey geborene Tochter eines rumänischen Einwanderers in die USA gilt als exzellente Ausstellungsmacherin, die in Turin ein renommiertes Zentrum der Gegenwartskunst leitet. Der geschmäcklerische Privatdilettantismus, mit dem der Wiener Roger M. Buergel im vergangenen Jahr als documenta-Chef blamiert hatte, soll sich offenbar nicht wiederholen. Nach dem ästhetischen Standpunkt der italo-amerikanischen "Powerfrau" muss man aber lange suchen. Auf der Biennale von Sydney, deren Kuratorin sie in diesem Jahr war, untersuchte Bakargiev, wie sich die Formen und Gesten der Avantgarde in Massenartikel verwandelt haben. Und geißelte die Ausweitung der Kunstzone als eine "besonders verrückte Form der Krankheit Konsumsucht".

Ein Moment der Selbstkritik könnte dem internationalen Kunstbetrieb nicht schaden. Doch auch wenn es keinen Olymp der Kunst mehr geben kann, von dessen Höhen spektakuläre Paradigmenwechsel dekretiert werden können wie 1972, als Harald Szeemann die "Individuellen Mythologien" inthronisierte, wie 1997, als Catherine David der politischen Kunst neu eine Bresche schlug oder 2002, als Okwui Enwezor das Kartell des ästhetischen Eurozentrismus zerschlug. Wenn sich die documenta, das nichtkommerzielle Ausstellungswunder in der nordhessischen Provinz mit Fernwirkung, nicht selbst aufgeben will, muss es jenes Mehr an Interpretation von Kunst und Gesellschaft liefern, das es unterscheidet. Zum Weltenmachen-Making Worlds lädt die Biennale von Venedig im Sommer 2009 ein. Bakargiev wird sich etwas einfallen lassen müssen, wenn sie drei Jahre später nach Kassel ruft.

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