Lesen ist schön. Spätestens seit die Frankfurter Allgemeine Zeitung diese Erwiderung ihres Redakteurs Volker Weidermann auf seine Kritiker ins Blatt hob, durfte man annehmen, dass es dem Blatt ernst ist. Bis dahin konnte man noch annehmen, dass ein launig dahingeplaudertes Buch, das eine so grundsätzliche Debatte eigentlich kaum verdient hätte, bald wieder vergessen werden würde. Nun aber wurde die Schwundstufe des ästhetischen Urteils, die darin propagiert wird, quasi zum Programm erhoben. Ob das der FAZ auf Dauer bekommen wird?
Lassen wir einmal beiseite, dass eine der mächtigsten Zeitungen Deutschlands sich zwar gern mit einem Mitarbeiter brüstet, der den Gestus des juvenilen Rebellen gegen die Gralsritter der gelehrten Literaturkritik pflegt. Ihn aber notfalls, wenn der Gegenwind zu stark wird, von der Kanzel des Leitartikels predigen lässt. Es mutet schon etwas seltsam an, dass sich eben dieses tonangebende Blatt zum Advokaten des Kriterienverlustes und - in einer Art sadomasochistischen Volte - zum Parteigänger einer antiintellektuellen Attitüde macht: Ist nicht die "nörgelnde, akademische Bedenkenträgerei", gegen die ihr Mitarbeiter Weidermann mit seinem Buch zu Felde zieht, im Grunde das Credo des eigenen Hauses? Zumindest im Feuilleton? Müssen Protagonisten einer reflektierten Kritik wie Henning Ritter, Christian Geyer oder Richard Kämmerlings jetzt umlernen?
Zugegeben: Das Blatt steckt in einem Dilemma. Auf der einen Seite kann es seinen führenden Sonntagsfrühstücksfeuilletonisten nicht einfach im Regen stehen lassen. Deswegen müssen Kollegen als Pflichtverteidigerinnen ran, die es eigentlich besser wissen müssten. In einer schwachen Umwegargumentation versuchte Felicitas von Lovenberg vergangene Woche ihren hitzköpfigen Kollegen mit dem Argument aus der Untersuchungshaft der Kritik zu pauken, dass die Literatur ja auch nicht ohne Leidenschaft auskommt. Was soll das heißen? Dass die Kritik in Zukunft auf Analyse verzichten soll? Würde man diese Logik verallgemeinern, könnte ein Polizist die gleiche kriminelle Energie, die den Täter leitet, als Antrieb seiner Arbeit reklamieren.
Nichts gegen eine Leidenschaft zur Kritik oder eine Kritik mit Leidenschaft. Doch wenn Weidermann den schwierigen Prozess der ästhetischen Urteilsbildung mit dem großzügigen Ausstreuen von Adjektiven wie "herrlich" "großartig" und "schön" ersetzt, darf man ihm dann nicht vielleicht doch ein mangelndes Begreifen seines Gegenstandes anlasten?
Dem Publikum, das der selbsternannte Populist angeblich vor Augen hat, hilft er mit solchen Slogans im übrigen nicht. Das Geheimnis des Schönen, vor dem es staunend schweigt, ist ja, dass sich dahinter eine Struktur verbirgt. Erklärt wird dieses unreflektierte Gefühl mit Essentialismen wie "herrliche Verse" und "große Literatur" gerade nicht. Im Gegenteil: Weidermann mystifiziert sie, um sein beliebtestes Schablonenlob aufzunehmen, "wie sonst keiner". Wenn die geschätzte Zeitung vom Main sich weiter so für ihren leicht entflammbaren Reporter ins Zeug legt, wird sie über kurz oder lang ihre Werbung umstellen müssen. Bislang steckte hinter dem Leitblatt der Bourgeoisie immer noch "ein kluger Kopf". Spätestens seit den bio-, gen- und generationspolitischen Kreuzzügen ihres Herausgebers Frank Schirrmacher müsste dieses Podium bürgerlicher Rationalität eigentlich mit dem Motto werben: "Dahinter steckt immer ein schwärmerischer Kopf".
Die Widersprüche, in die sich Weidermann sonst so verstrickt, fallen einem bei der Frontstellung "Emphatiker" gegen "Gnostiker" schon kaum noch auf. Auf der einen Seite soll die Literatur möglichst "mitten aus dem Leben" kommen. Auf der anderen Seite bewundert er bei einer seiner Heroinen, der Berliner Schriftstellerin Terézia Mora, dass sie "in ihrer eigenen Welt" lebt. Ihr sieht er auch den "ernsten Ton" nach, den er bei Peter Huchel, Johannes Bobrowski, Wolfgang Hilbig, Christoph Hein und Reinhard Jirgl mit arrogantem Missvergnügen tadelt: "Mann, mann, mann. Ist das alles grau hier. Und schlecht gelaunt", leitet er sehr pauschal das Kapitel über die DDR-Autoren ein. Sieht so die Analyse der "politischen, gesellschaftlichen Zusammenhänge" aus, in denen Literatur entsteht?
Auf dieses Erkenntnisinteresse weist Weidermann in seinem Vorwort ausdrücklich hin. Doch um sie wirklich einzuschätzen zu können, muss man wohl doch eher zu Wilfried Barners Geschichte der deutschsprachigen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart greifen. Der gemeine Mann von der Straße liest dieses literaturwissenschaftliche Werk gewiss nicht mit der gleichen Kurzweile wie das coole Parlando aus der FAS-Lounge. Letztendlich aber doch mit mehr Gewinn. Zum Glück erscheint in diesem Monat eine Neuauflage. Wie wäre es, wenn die Kollegin Heidenreich zur Abwechslung diesem Standardwerk einmal die verkaufsfördernden Bauchbinden "ein herrlicher Wälzer" und "Lesen!" umhinge?
Der ganze Streit wäre weiter nicht so tragisch, wenn das tiefer liegende Problem dabei nicht unbearbeitet bliebe. Die Pläne des Deutschen Literaturfonds in Darmstadt, eine große Sonder-Ausgabe der österreichischen Literatur-Zeitung Volltext zur Frankfurter Buchmesse im Herbst zu bezuschussen und Weidermanns verunglücktes Buch haben einen gemeinsamen Kern - den Bedeutungsverlust der Literatur in der Mediengesellschaft. Um ein bedrohtes Gut mit Posaunenstößen in die Mitte der Kultur zurückzubefördern, ist seinen Liebhabern offenbar jedes Mittel Recht. Der eine verfällt in die literaturkritische Euphorie. Die anderen suchen den Rettungsanker in einem gigantischen Marketing-Coup. Doch um die verborgenen Vorzüge eines bedrohten Kulturguts an den Mann und an die Frau zu bringen, eignete sich womöglich doch besser eine Haltung die sich mit den Worten beschreiben ließe: Denken ist schön!
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