Er hatte nie dazugehört

Nachruf Schweizer Weltbürger: Zum Tod des Schriftstellers Hugo Loetscher (1929-2009)

Es war in den letzten Jahren stiller um ihn geworden. Aber auf irgendein Altenteil hatte sich Hugo Loetscher nie zurückgezogen. Als ich ihn zuletzt in seiner Wohung in Zürich traf, lag ein spanisches Buch über „Hybriditäten“ auf dem Schreibtisch. Er war stets informiert über alle neuen kulturwissenschaftlichen Theorien, wollte alles über Angela Merkel wissen, über die Entwicklung im Prenzlauer Berg, wo wir einmal zu Abend gegessen hatten, über meine Türkei-Erlebnisse. Und bei einem Apero verwickelte er mich sofort in eine Diskussion über Multikultur und Heimat, über Literatur und Wissenschaft. Nur beim Essen verzichtete er auf den Nachtisch. „Das darf ich nicht mehr“, sagte er leise, wie entschuldigend. Der Krankheit, die der Grund dafür war, blieb unerwähnt. Hugo Loetscher hat nie viel Aufhebens von sich und seinen Leiden gemacht.

Wann habe ich ihn eigentlich zum ersten Mal getroffen? Es war in den Bergen. Und sprach er von der Welt. Das hatte mich beeindruckt. Das erste Mal war es in Solothurn, bei den Schweizer Literaturtagen. Auf Lesungen und Festivals wird ja gern die unverwechselbare Autorenstimme vergöttert. Und plötzlich hörte ich in dem mittelalterlichen Landhaussaal des klitzekleinen Barockstädtchens zwei Stimmen. Hugo Loetscher, der Schweizer Autor, im poetischen Dialog mit Jeroen Dewulf, dem Germanisten aus Portugal. Er las aus seinem Werk. Dewoelf kommentierte.

Das Wechselspiel von Autor und Interpret, das virtuose Spiel aus Kunst und Analyse, das sie darboten, hatte mir damals mehr als viele Untersuchungen klar gemacht, was jeder abstrakt längst weiß: wie wenig man in der Literatur, wie in jeder anderen Kunst, Produktion und Rezeption voneinander trennen kann. Zwei Jahren später lasen die beiden in Leukerbad, in einem stillgelegten Schwimmbad in den Walliser Bergen. Das hat mich dann nicht mehr gewundert. In seinem Roman Saison von 1995 war das Schwimmbad eine Bühne der feinen Unterschiede – ein Badetheater.

Ein Kritiker hat Loetscher einmal den "kosmopolitischsten aller Schweizer Schriftsteller" genannt. Zu Recht. Von einem jüngeren Schweizer Schreiber, dem Popliteraten Christian Kracht kann man in seinem berüchtigten RomanFaserland: Roman"> Faserland lesen, dass er beim Fliegen und bei Flughäfen das Gefühl der Wichtigkeit und des Erhabenen so schätze. Weltläufigkeit schrumpft bei diesem Autor zur Prätention, die Welt wird zur Kulisse für den Stil-Dandy.

Welt als Erfahrung

Bei Loetscher, das zeigen nicht nur seine Bücher über Portugal, Brasilien oder Kalifornien ist die Welt wirkliche Erfahrung, Lebenserfahrung. Um 1969 gab er sein Existenz mit sicheren Stellen als Literaturredakteur beim Züricher Tagesanzeiger, der Weltwoche und der Kulturzeitschrift Du auf, um die Welt zu erkunden. Er wurde zu einem der besten Kenner der lateinamerikanischen Politik und Kultur überhaupt. Keiner hat je hellsichtiger und analytischer über den Führer der kubanischen Revolution geschrieben als Hugo Loetscher in seinem Essay Zehn Jahre Fidel Castro (1969).

Jedem der Theoretiker, die heute über Globalisierung reden, sei aber zur Lektüre vor allem Loetschers Werk Wunderwelt: Eine brasilianische Begegnung" target="_blank">Wunderwelt - Eine brasilianische Begegnungvon 1983 empfohlen. Der Fremde, eine wiederkehrende Figur in seinem Werk, der da durch Brasilien reist, verirrt sich eines Tages durch Zufall in ein Nest in der nordbrasilianischen Provinz. In dem Flecken wird er Zeuge eines Kinderbegräbnisses. Das Bild des kleinen Mädchens in dem schäbigen kleinen Holzsarg lässt ihn nicht los. Er beginnt, dem Kind ein Leben anzudichten, das es nie geführt hat, aber wahrscheinlich geführt hätte.

Das Bild von den Lebensbedingungen der einfachen Menschen, das dadurch entsteht, das er aus den Augen eines toten Kindes erzählt, ist ein Requiem für die Namenlosen der Peripherie. Ein Requiem ohne Pathos. Unkonventionell in der Perspektive, getragen von einem Gefühl der Solidarität mit den Verlierern - zärtlich, aber illusionslos genau.
Wunderwelt: Eine brasilianische Begegnung" target="_blank">Wunderwelt ist eine sozialrealistische Fiktion und zugleich eine frühe Prophetie: "Die Zeichen stehen auf Alarm. Bald wird es überall sein wie im Hafen der Armut: Dort bettelte eine Frau bei einem Händler um ein paar schwarze Bohnen, der aber meinte, wenn sie kein Geld habe, soll sie die Fingernägel kauen; da zeigt die Frau ihre Hände, und es waren keine Nägel mehr dran und kaum mehr Finger, sie hatte sie schon längst ihren Kindern hingehalten."

Luftwurzeln in Zürich

"Wieviel Globalisierung verträgt der Mensch?" fragte der deutsche Autor Rüdiger Safranski vor ein paar Jahren in einem Essay. Zu viel rasante Globalisierung, das zeigt sich zur Zeit wieder einmal dramatisch, schadet den einfachen Menschen. Aber zu wenig Globalität bekommt dem Autor nicht. Nehmen wir uns in Sachen Welterfahrung einfach Hugo Loetscher zum Maß: "Nur wer zu Hause bleibt, weiß wie die Welt ausschaut" beschied er einst die Selbstgewissheit der Provinzfürsten aller Nationen.

Man konnte mit Hugo Loetscher wunderbar schweizerisch essen gehen in der Züricher Altstadt, nahe dem Hotel Storch, wo er seit Jahrzehnten in einem kleinen Dachgeschoß wohnte und die Luftwurzeln eines Weltbürgers geschlagen hatte. Und immer, wenn er nach Deutschland kam, fragte er nach typisch deutscher Küche, mied die Lokale mit der nivellierten cuisine internationale. Doch man durfte sich von dem Corpus der Gemütlichkeit, von der bodenständigen Jovialität Loetschers nie täuschen lassen. Denn dieser Mann war ein Muster an Modernität.

Der Autor Loetscher ist einer der Simultaneität. Er vermischt in seinen Werken beständig Reportage und Erzählung, Chronik und Fiktion, Essay und Erfindung,. Er vermischt Autor, Erzähler und Protagonist. Er wechselt die Perspektiven. Er sieht Identität als Netzwerk. Nirgends hat er das beispielhafter vorgeführt als in seinem Hauptwerk, dem autobiografischen Roman Der Immune">Der Immune von 1975 und dem Nachfolgeband Die Papiere des Immunen">Die Papiere des Immunen 1986, elf Jahre später.

Hier gibt Loetscher Einblick in die Welt der Zeitung und ihrer Macher, in die Produktion, die Skandale und Intrigen des publizistischen Metiers, der er entstammt. Und hier formuliert er seine Lebensweisheit: „Er hatte nie dazugehört. Wo immer er sich zur Deckung bringen wollte, es ging nie ganz auf. Er begriff, es blieb immer ein Rest und immer ein anderer, und diese gesammelten Reste machten ihn aus“. Ein Stellung ausserhalb der Cliquen und Lager, ein Einzelgänger, der sich stets neu vergesellschaftet.

Mit seiner Idee von der Dialektik von Weggehen und Bleiben, von Dazugehören und Fremdsein, von Erkenntnis und Darstellung, von der Zweisprachigkeit aus Mundart und Hochsprache hat sich Loetscher als eminent postmoderner Autor gezeigt – Pionier einer umstrittenen Epoche vor ihrer Erfindung. Loetscher hat die Struktur seiner Werke selbst einmal mit dem Brüsseler Atomium verglichen.

Für die Megastadt Los Angeles hat er das Bild von der großen, kernlosen Orange geprägt. Und über fünfhundert Jahre nach Galilei muss man offenbar doch noch mal die Konsequenzen eines weltstürzenden Fakts auf den Punkt bringen, die man eigentlich als akzeptiert wähnte: "Globales Denken", schrieb Loetscher jüngst in seinem Aufsatz Im Helvetischen Chatroom, "stützt sich auf die Erkenntnis, dass es auf einer Kugel keinen Mittelpunkt gibt".

Demokratie und Ästhetik

Loetscher ist einer der frühesten Autoren der Pluralität, des Nebeneinander und der Ambivalenz. Die Erfahrung von Brasilien hat sein Verständnis von der Hybridität jeder Kultur geprägt. Und er hat es schon vor Jahrzehnten geschafft, all diese heute als Modeworte gehandelten Vokabeln zu einem ästhetischen Erlebnis, nicht zum Codewort einer avantgardistischen Verschwörung zu machen. In jedem seiner Werke will er mit seiner Geschichte auch Das Erzählen erzählen. So lautet der Titel seiner 1999 erschienenen Poetik-Vorlesungen.

In Bezug auf seine Tier-Fabeln hat Loetscher einmal von der "Literarisierung der Moral" gesprochen. An anderer Stelle davon, Moral und Stil zu verbinden. Angeblich leben wir ja in den Endmoränen der Popmoderne. Nun sei wieder die neue Ernsthaftigkeit angesagt. Man darf hoffen, dass alle, die sich jetzt auf diesen undankbaren Stil werfen wollen, um reich und berühmt zu werden, vorher ein, zwei Loetscher-Bücher lesen. Ich kenne nämlich kaum einen Autor, der es geschafft hat, das Weltbewusstsein der Literatur mit der Lust des Autors am Spielerischen und der Ironie so zu verbinden.

Und ich kenne kaum einen Autor, dem es gelungen ist, Ästhetik und Engagement – Loetscher selbst nannte sie, weniger abstrakt, „Behaftbarkeit“ – so zu verbinden, dass keines der Elemente das andere erschlägt. In seinem Werk Abwässer">Abwässer von 1963 beispielsweise sieht man die Welt aus der Perspektive der Produzenten und Verwalter von Exkrementen. Stoffwechsel und Entsorgung machen in einer Stadt nach einem Umsturz alle gleich: Eine Perspektive von unten. Demokratie und Ästhetik gehen bei Loetscher eine – fast könnte man sagen – bekömmliche Verbindung ein. Bei ihm müssen wir nicht wie bei Martin Walser die Ironiekeule fürchten. Bei ihm lernen wir die lachende Wahrheit schätzen, die konstruktive Ironie.

Literatur ist bei Loetscher "verpackte" Moral. So unsichtbar wie das schaumbildende Ei in der Zabaione. So locker geschlagen und doch so komplex, eine nahrhafte Luftspeise. Vielleicht ist es diese literarkulinarische Köstlichkeit, die Loetscher der„Literatur deutscher Ausdrucksweise“ gegeben hat – so würde der heimatverbundene Nichtpatriot das Phantom der „deutschen Literatur“ nennen.

Am 22. Dezember diesen Jahres wäre Hugo Loetscher 80 Jahre alt geworden. Nun ist er gestern in Zürich nach einer schweren Operation gestorben. Seine Bücher bleiben. Am Freitag erscheint sein letztes Werk. War meine Zeit meine Zeit">War meine Zeit meine Zeit – die intellektuelle Bilanz Hugo Loetschers, in der er die Themen seines Lebens und seines Werks zu einer weltumspannenden „Autogeographie“ entfaltet. Wer dieses Buch, wer diesen Autor liest, entdeckt einen der zeitgenössischsten Autoren im deutschen Sprachraum. Es war, wie gesagt, etwas still geworden um Hugo Loetscher in den letzten Jahren. Doch ich bin sicher, es gibt bald wieder eine Hugo-Loetscher-Renaissance.

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