Als Walter Benjamin der "Engel der Geschichte" erschien, könnte er Kassel vor Augen gehabt haben. Seit 1943 hatten die Alliierten des Zweiten Weltkriegs die nordhessische Waffenmetropole systematisch in Schutt und Asche gelegt. Am Ende des Zweiten Weltkrieges war sie im wahrsten Sinne des Wortes ein Trümmerhaufen. Und just auf diesen Trümmern der Barbarei und des Krieges startete im Sommer 1955 Arnold Bodes Documenta.
Benjamins Engel starrte auf die Trümmer und trieb mit dem Rücken in die Zukunft. Bode drehte sich herum und stürmte mit großen Schritten los. Seine Documenta bahnte der Moderne in Gestalt der Abstraktion den Weg, setzte die Pop-Art durch, gab Joseph Beuys ein Forum und führte die Medien in die Kunst ein. Mit fast jeder Schau strebte sie einen Schritt weiter. Die Trümmer der vergangenen Epochen im Rücken. Bis 2007. Bis Roger Buergel kam.
Benjamin vom Kopf auf die Füße stellen. Einmal wieder zurückblicken. Das mag sich der 1962 in Berlin geborene Kurator aus Wien, Gründer der Kunstzeitschrift springerin, gedacht haben, als er 2003 Nachfolger des amerikanischen Nigerianers Okwui Enwezor wurde. Nach dessen Vorstoß in die Weiten der Kunst der Globalisierung und des Postkolonialismus hat Buergel wieder einen Gang zurückgeschaltet. Nicht umsonst hat er Paul Klees Zeichnung Angelus Novus von 1920, von dem Benjamin die Inspiration zu seiner Geschichtsphilosophie bezog, als ein Leitmotiv seiner Schau gewählt. Wenigstens einmal wollte Buergel fragen, wie die Kunst, die da in immer atemberaubenderem Tempo an uns vorbeizieht, herkommt und wie sie zusammenhängt. Und so gelangte ein Gartenteppich aus dem Iran des 18. Jahrhunderts neben einen modernen Wandteppich des malischen Künstlers Abdoulaye Konaté, auf dem Palästinensertuch und israelische Flagge nebeneinander prangen. Kombinationen wie diese haben in Kassel Methode. Doch dazu später.
Vorab: Was aus Burgels Weigerung, dem Fortschrittsdiktat der Moderne eine weitere spektakuläre Etappe hinzuzufügen, herausgekommen ist, kann sich sehen lassen. Buergel hat sich weder von Trends noch von Prominenz vereinnahmen lassen. Nirgends hängt ein Stück Leipziger Schule, nur ein einziger kleiner Gerhard Richter findet sich unter den rund 400 Werken. Dafür hat Burgel Vergessene wieder ans Tageslicht befördert, wie die 1988 gestorbene Charlotte Posenenske mit ihren minimalistisch anmutenden Skulpturen: verschachtelten Entlüftungsrohren oder begehbaren Containern.
Buergels Documenta ist keine Galeristenschau, keine gewinnsteigernde Notifikation einer Mode oder einer Region. Es ist auch keine Documenta der karrierefördernden Profilierung eines Kurators. Die Documenta 12 ist vor allem eine Documenta der wieder entdeckten Form. Es gehört zu den beglückenden Erfahrungen der Schau, dass die Kunst noch immer aus der ureigenen Kraftquelle schöpft, die die Dokumentaristen und Feldforscher der letzten zehn Jahre zugunsten von pseudowissenschaftlichen Verfahren und Arrangements hatten versiegen lassen.
Buergel und seine Lebensgefährtin, die feministische Kulturwissenschaftlerin Ruth Noack, die ihm ungewöhnlicherweise als Kuratorin zur Seite stehen durfte, haben so wunderbare Entdeckungen gemacht wie die Brasilianerin Iole de Freitas. Ihre gewundene Skulptur aus polierten Stahlrohren und transparenten Polycarbonplatten dynamisiert den Raum, durchbricht den rechten Winkel des Fridericianums und setzt sich an seiner Außenseite fort. Die Avantgarde lebt! Sie überwindet alles!
Die beiden Kuratoren zeigen vergessene Schätze aus Osteuropa, wo in den siebziger Jahren eine nonkonformistische Formbegeisterung die Doktrin des sozialistischen Realismus überlebt hat: die Skulpturen Maria Bartuszovas, die aussehen wie verschnürte Eizellen oder die inszenierten Haarbündel von Be?la Kolár?ová. Eine faszinierende Fotoserie der polnischen Künstlerin Alina Szapocznikow widmet sich dem Kaugummi. Unglaublich, welch skulpturale Formenvielfalt sie diesem Alltagsfetisch an einem langweiligen Samstag des Jahres 1971 zu entlocken wusste.
Diese Liebe zur "reinen" Form muss keinen Rückfall in politisch-gesellschaftliche Ignoranz bedeuten. Dass Buergel und Noack den Zyklus "Tucuman Arde" an prominenter Stelle in das Fridericianum gehängt haben, ist eher als Tribut an die vergessenen Avantgarden außerhalb Europas denn als Bekenntnis zur sozialrealistischen Politkunst zu verstehen. 1968 gab es auch in Argentinien. In einer spektakulären Ausstellung dokumentierten Künstler damals die Ergebnisse ihrer Recherchen zu den Ursachen von Hunger und Verarmung in der Provinz Tucuman. In Kassel erinnert Buergel an den "point of no return" in der Geschichte der politischen und künstlerischen Avantgarden Argentiniens.
Die meisten Werke beweisen aber eher, dass es politische Kunst mehr kann, als Dokumentarvideos zu drehen. Das "Traumschiff" des Beniner Künstlers Romuald Hazoumé aus zersägten Benzinkanistern ist zwar ein etwas deutliches Symbol für das Schicksal der Migranten und die löchrige Utopie in Zeiten der Globalisierung. Aber diese politische Skulptur funktioniert über eine ganz eigene Form. Der spanische Künstler Iñigo Manglano Ovalle hat die nie gefundenen, mobilen Waffenlabors Saddam Husseins gebaut, mit denen Colin Powell in seiner berüchtigten Rede vor dem UN-Sicherheitsrat den Irak-Krieg begründete. In rotes Neonlicht getaucht steht der Phantom-Truck in einer düsteren Ecke. Die Kunst machte aus einer politischen Fiktion eine künstliche Realität.
Diese Documenta zeigt auch, dass man Joseph Beuys´ Zauberwort von der Partizipation anders als mit politischen Mitmach-Spielchen übersetzen kann. Die herrlich zweckfreien Objekte mit Loch des brasilianischen Künstlers Ricardo Basbaum regen nun bei Nutzern in aller Welt die Phantasie an: Soll man sie als Badewanne benutzen oder als Skulptur? Nach den zehn Jahren der poetischen Schonkost des Sozialdokumentarismus hat sich in Kassel wieder eine gut gefüllte Schatzkammer der Formen geöffnet, die Staunen macht.
Gerade deswegen muss es aber als erstrangige Katastrophe bezeichnet werden, dass es dem 19-Millionen-Euro-Apparat Documenta nicht gelungen ist, das rote Mohnfeld der kroatischen Künstlerin Sanja Ivekovic´ vor dem Fridericanum zum Blühen zu bringen. Hat Buergel nicht einen Documenta-Beirat aus Kasseler Bürgern ins Leben gerufen, um die Schau vor Ort zu verankern? Hat sich darin kein Gärtner gefunden, der der Künstlerin hätte sagen können, dass Mohn eine zweijährige Pflanze ist und viel Wasser braucht? Für eine Schau, die auf die "sinnliche Kollaboration" mit dem Besucher setzt und die Farbe der Blumen als Leitmotiv ihrer Plakate wählte, fehlt nun das Erkennungszeichen. Statt in flirrendes Rot starrt man die nächsten Wochen erst einmal in eine braune Schlammwüste.
Das ist ebenso wenig ein "Schönheits"-Fehler wie die Tatsache, dass ein von der Boulevard-Presse mit Spannung erwarteter Gast, Spaniens Starkoch Ferran Adrià doch nicht zur Documenta kam. Eigentlich sollte er mit seiner "molekularen" Küche die Kulinarik als gleichberechtigte Form in den Kanon der Kunst einführen. Aus nicht mehr nachvollziehbaren Gründen blieb er dann doch in Barcelona. Flugs deklarierte Buergel Adriás Lokal "El Bulli" zum "Außenposten" der Schau. Von ihm nach dem "bewährten Prinzip kuratorischer Willkür" ausgewählte Gäste dürfen nun dort essen gehen. Ein ähnliches Bild bei dem für drei Millionen Euro Zusatzkosten des bei den französischen Stararchitekten Lacaton Vassal in Auftrag gegebene Pavillons für die Karlsaue. Wo ein "Kristallpalast" auf der Wiese schweben sollte, steht nun eine Kreuzung aus Asylantenheim und Blumen-Discounter. Die Highlights einer neuen Synästhesie mutierten in Kassel zu einem ästhetischen Desaster.
Wenn Buergel zur Eröffnung die vielen Flops mit dandyhafter Melancholie zum gezielten Verstoß gegen den Perfektionszwang der Documenta adelte, beschlich einen manchmal den Verdacht, dass da einer, der bislang kleine, hoch gelobte Spezialausstellungen wie Die Regierung im Frühjahr 2005 in Lüneburg bewältigt hat, die Not der Überforderung zur Tugend verklären will. Mulmiger als bei solchen Äußerlichkeiten wird einem aber bei den Inhalten. Denn für eine Ausstellung, die sich auf eine "Ästhetik der Formlosigkeit" beruft, spielt die Form eine verdächtig heilige Rolle.
Was will uns der Kurator damit sagen, dass ein persischer Künstler aus dem 14. Jahrhundert die geschwungene Linie der chinesischen Bildsprache in seine Landschaftsminiatur - das älteste ausgestellte Werk in Kassel - übernahm? Was bedeutet es, dass der chinesische Künstler Ai Wei Wie diese Linie wieder in seine kostbare Porzellanskulptur Prototype for the Wave von 2004 integriert? Buergel hat beide Werke vis-à-vis postiert. Wie kommt es, dass in Schloss Wilhelmshöhe die Zeichnung einer indischen Kurtisane, die sich ihr Haar kämmt aus dem 19. Jahrhundert so frappierend an eine Figur von Matisse erinnert? Und der Musterentwurf des japanischen Landschaftszeichners Katsushika Hokusai von 1835 an den Barcode der digitalen Warenkultur von heute?
So zufällig Buergel und Noack ihre Belege für die spannende kunsthistorische Frage von der "Migration der Form" ausgewählt haben, wirkt ihr Vorgehen wie der romantische Spleen zweier privater Connaisseure zur erlesenen Geschmacksbildung, die auf einer Soiree ihre Gäste mit der Frage überraschen: Sieht sich das nicht wunderbar ähnlich? Da war Aby Warburg mit seinem (verschollenen) Bilderatlas Mnemosyne schon mal weiter. Der Hamburger Kunsthistoriker verfolgte zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Weiterleben der Antike in der europäischen Kultur über die Form. Buergel übertitelte seine Documenta ganz ähnlich und fragte: "Ist die Moderne unsere Antike?" Irgendeinen Verweis zu Warburg sucht man in Buergels Schau, die mit historischen Bezügen sonst nicht geizt, jedoch vergeblich.
Spätestens hier spürt man einen konservativen Zungenschlag in seinem Konzept. Natürlich fasziniert die Idee, dass sich die ewig währende Form als unwandelbare Konstante durch die Zeiten zieht. Doch so enthebt man sie auch ihren historischen und sozialen Kontexten. Kein Wunder, dass bei Buergel der iranische Gartenteppich und Abdoulaye Konatés Teppich mit Flaggen zuvörderst ein "Ensemble visueller Formen" sind. Wenn es seine und Noacks geheime Idee gewesen sein sollte, das Unbehagen an der zur Postmoderne zerstückelten Moderne mit dem sinnfälligen Aufweis zu heilen, dass doch noch ewige ästhetische Gesetze walten, dann hat diese Schau eines intelligenten Gesellschaftsanalytikers etwas Vormodernes. Lässt sich ein neuer (sozialer) Zusammenhang auf Linie und Form gründen?
In einem seiner Zentralräume hätte Buergel diesen Zwiespalt selbst nachvollziehen können. Der Bilderfries Album II des kanadischen Künstlers Luis Jacob, Hunderte von Fotos, angefangen von Skulpturen auf der Osterinsel bis hin zu zeitgenössischen Tanzperformances, kann man als Beleg für Buergels Idee vom Universum der Formen lesen. Oder auch nicht. Denn ein und dieselbe Linie wird in unterschiedlichen Kulturen völlig anders gedeutet. Am stärksten wendet sich die Ausstellung im Auepavillon gegen ihren Kurator: Dort stößt der Besucher auf den Gesichtsschleier einer Braut aus Tadschikistan aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Das Feld um den Sehschlitz ist auf das Filigranste mit archaischen Formen, mit Sternen und Rhomben aus kostbarer Seide bestickt. Auch die schönste Form kann manchmal ganz schön grausam sein.
Documenta 12. Kassel. Noch bis zum 23. September 2007. Kataloge, Taschen, Reader 20 EUR, Bilderbuch 39,99 EUR
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