Fehlen da nicht zwei Paulusbriefe?

ERLAUBT IST, WAS SICH BEWÄHRT HAT Die 24. Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt gingen auf Nummer sicher

Wenn man mit dem Intercity-Express "Blauer Enzian" nach Österreich fährt, wird die Welt hinter Salzburg urplötzlich gemütlich. Lauter ältere Herrschaften in hellgrünen Windjacken und karierten Kompotthütchen sitzen an den Panorama-Fenstern. Staunend blicken sie auf die steil aufsteigenden Berge, fiebern den sanftblauen Ufern des Wörthersees entgegen. Hier geht's zur Seniorenfreizeit!

An dieser Atmosphäre des Beruhigten kann es nicht gelegen haben, dass sich im Jahr 2000 der renommierteste deutschsprachige Literaturwettbewerb so auf das Bewährte gestützt hat. Sonst hätte sich dort nie ein Rainald Goetz die Stirn aufgeschnitten, wäre dort nie das Wort "Babyficker" gefallen. War das politische Klima schuld an der ästhetischen Vorsicht beim Prämieren?

Als der Kärntner Landeshauptmann Jörg Haider, dessen Regierungsgebäude nur ein paar Querstraßen entfernt vom Sendesaal des ORF steht, vor einem Jahr seine Attacke auf den "sterilen" Wettbewerb gestartet hatte, hatte er dem, in den letzten Jahren zwischen Ritual und Qualität schwankenden Wettbewerb ungewollt Solidarität verschafft. Doch ein deutliches politisches Signal gegen den Verhassten und seine rechtsradikale Kulturpolitik, das man sich von einem der wichtigsten Kulturtreffs erwarten konnte, blieb aus.

Zwar konnte man in dem Eröffnungsvortrag des österreichischen Schriftstellers Franz Schuh, der neu eingerichteten "Klagenfurter Rede zur Literatur", so etwas wie die raffinierte Strategie erkennen, Haider nicht durch heftige Schmähreden größer zu machen, als er ist. Doch die Autonomie der Kunst verteidigte er mit seiner überelaborierten Grundsatzrede sehr allgemein. Und aus seinem Wort von der Literatur als "Konzentration des Ichs" konnte man das Plädoyer gegen jede Art von Volksgemeinschaftsideen nur sehr abstrakt ablesen. Währenddessen wird in Kärnten von Kulturminister Haider und seinem Kulturberater Mölzer missliebige Kunst höchst konkret ausgetrocknet. Da wurde plötzlich die Klagenfurter Schutzpatronin und Ikone einer reinen Lyrik zur Gesinnungsästhetin. Ingeborg Bachmanns Spruch, sie glaube nicht daran, "dass die Kunst die Kunst und die Politik die Politik ist" prangte in großen Buchstaben in der diesjährigen Lesekulisse.

So demonstrativer politischer Zurückhaltung hätte es vielleicht nicht bedurft. Denn die Anzeichen einer Repolitisierung unter der jüngeren Gegenwartsliteratur waren unübersehbar. Hatten sich vor Jahren noch die Schreibenden in den Inszenierungen des orientierungslosen Ichs im Nachspann des Epochenbruchs überboten, geriet in diesem Jahr wieder mehr gesellschaftliche Realität ins poetische Fadenkreuz. Ob der Zürcher Daniel Goetsch seinen Helden aus der Welt der Global Players nach einer missglückten Finanz-Transaktion durch die Stadt irren lässt. Ob der Wiener Stephan Alfare ein Kabinett der ausgemusterten Randexistenzen im Alkoholparadies des "Ohrwaschel-Stübl" bis zum Sargträger zeichnet. Oder ob die Berlinerin Susanne Riedel in ihrem, mit dem zweiten Preis ausgezeichneten Romanmanuskript Knoten den Zirkus der Fernsehtalkshows beschreibt, deren Verblödungssporen den öffentlichen Diskurs durchziehen.

Keine Angst. Die Jahre 68 ff kehren nicht wieder. Von ihrem oft erdenschweren Moralismus unterscheiden sich Autoren wie der Münchener Georg M.Oswald durch coole Distanz und die neue Lust an der Oberfläche. Seine Geschichte Wellness fiel zwar schon durch die Vorauswahl, weil eine geheimnisvolle Erzählinstanz seine kranken Luxusgeschöpfe zwischen ihren Designersofas und in Jil-Sander-Kostümen wie Marionetten aufmarschieren lässt. Doch die Unzufriedenheit mit dem Alltag des globalisierten Elends, mit und ohne Maske, oben wie unten, ist häufig zu spüren.

Selbst die souveräne Kunstsprache Georg Kleins, des diesjährigen Gewinners des Ingeborg-Bachmann-Preises, spielt, wenn nicht unbedingt im Interieur der "Endspiele des Humanismus", wie die Jurorin Iris Radisch von der Hamburger Zeit vollmundig interpretierte, aber doch in den Ruinen einer Zivilisation, die nach einer neuen Aufklärung sucht. Auch wenn seine Geschichte von dem Mann, der sich aus einer zerfallenen Kanalisation im Keller eines Hallenbades mit Hilfe zweier Archivare in einem anstrengenden Aufstieg zum Dach hieven lässt, um dort auf Spielzeugautos zu treffen, an ihrer überdeutlich aufgetragenen Symbolik krankte. Und wenn man die Vermutung von Schriftsteller-Juror Burkard Spinnen teilt, dass Kleins Auszug aus einem Roman nicht etwa schon der Gipfel seiner Sprache aus Hochdruck, Präzision und Geschmeidigkeit ist, sondern vermutlich erst der Anfang, beschleicht einen die leise Befürchtung, dass dieser exzeptionelle Sprachkünstler, unter dessen elegantem Auftritt ein beherrschtes Selbstbewusstsein federt, auf eine Überwältigungsprosa zusteuert.

Die Entscheidung für Klein war abgesprochen. Ganz ungewöhnlicherweise. Damit wollten die sieben Juroren einen Schreiber auszeichnen, der trotz jahrelanger Nichtbeachtung konsequent weiterschrieb. Ein nachvollziehbarer Akt später Wiedergutmachung. Und den mit Abstand besten Text nicht der Gefahr aussetzen, in einer Stichwahl plötzlich herauszufallen. Doch damit setzte die Jury auf eine bekannte Position. Ebenso wie bei der Vergabe des 3-sat-Stipendiums an Julia Franck für die doch etwas einfache Geschichte einer Hassliebe zweier um denselben Mann konkurrierender Frauen. Oder bei der Vergabe eines der Stipendien der Kärntner Bürger an David Wagner für die melancholische Dreiecksgeschichte, die er vortrug. Die Jury konnte sich zwar nicht einigen, ob die etwas sanft plätschernde Geschichte nun eine Erinnerungsgeschichte oder ein subtiles Spiel mit Wassersymbolen war. Der 1971 geborene, schmale Autor, der im gut sitzenden Anzug immer wie der Kleine Lord wirkt, konnte ihnen auch nicht helfen und ließ die Jurydiskussion mit seinem feinem Lächeln an sich abgleiten. Alle vier Hauptgewinner haben bereits Bücher publiziert. Und keine aufsehenerregend neuen Texte vorgelegt. An ihnen wusste man, was man Gutes hat. Damit gefiel sich die Jury in der konservativen Rolle der nachträglichen Legitimierung. "Erlaubt ist, was gelingt," hatte Spinnen, der Juror mit dem Hang zum Lexikalischen, in der Diskussion mit seiner unnachahmlichen Mischung aus Großzügigkeit, Bildungsbürgertum und Pedanterie das Feld der Kunst bestimmen wollen. Bei der Preisvergabe war vor allem erlaubt, was sich schon bewährt hat.

Durch alle Rasterabsprachen fiel stattdessen das gekonnte Plädoyer der deutsch-schweizerische Schriftstellerin Birgit Kempker für die Phantasie. Vor kurzem in die Schlagzeilen geraten durch den Gerichtsstreit, den einer ihrer verflossenen Liebhaber um ihr Buch Als ich das erste Mal mit einem Jungen im Bett lag angestrengt hatte, hatte sie die Gerichtsverhandlung um diesen Text und die Rückkehr an den Heimatort ihrer ersten Liebe zu einem bezwingenden Sprachwirbel aus Anklage und Autobiographie verarbeitet. Schade, dass Iris Radisch gerade bei diesem Text einen black out hatte. Verärgert über das mal wieder über alles ungehaltene Literarische Quartett der alten Männer an einem der Wettbewerbsabende hatte sie das - auch ob des in der Jury grassierenden Plastizitäts- und Plausibilitäsbedürfnisses - überfällige Plädoyer in die 3sat-Kameras geschleudert: "Literatur soll ja gerade das Unmögliche und das Unvereinbare zusammenfügen, damit man sich ein neues Bild der Welt machen kann."

Und ausgerechnet Jurysprecher Robert Schindel, der sonst gar nicht zu bremsen ist, seine Kollegen mit (meist unsäglich schlechten) Texten zu sozialen Konflikten zu bombardieren, grantelte diesmal von seinem Unwillen, sich mit "außerliterarischen Bezügen" abzugeben. Aber einen Skandal wollte man in dem mit einer großen Zahl guter, aber immer weniger experimenteller Texte mühsam konsolidierten Klagenfurt nicht haben. Zum Ausgleich waren manche Juroren gern übergenau bei nicht immer ganz so entscheidenden Feinheiten. "Fehlen da nicht zwei Paulusbriefe?" fragte streng die stets indigniert und haarscharf am Kern der Texte vorbeinörgelnde Schriftstellerin Ulrike Längle den Frankfurter Autor Andreas Maier. In seinem humorvollen Dialogstück versuchen sich zwei Überlebende des Dritten Reiches mit humanistischen Bildungsresten zu übertrumpfen. Den Ernst-Willner-Preis bekam Maier trotz der Einwände der trotzigen Prinzessin aus dem österreichischen Vorarlberg, in diesem Jahr eindeutig das Schlusslicht der Jury. Dicht gefolgt von der Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen aus Zürich. Wo Iris Radisch mit ihrem erfrischenden Temperament auch schon mal ungerecht übers Ziel hinausschoß, vermied Bronfen dezidierte Kritik. Immer wieder wollte die Professorin wie in einer Proseminaranalyse bei den Kollegen "anschließen" und wob mit spitz zusammengedrückten Differenzierungshänden immer noch ein Silberfädchen erläuternder Interpretation ins längst gewobene Netzwerk der Argumente.

Der Traditionalismus des Jahres 2000 wird eine traditionsreiche Einrichtung nicht beschädigen. Der Ingeborg-Bachmann-Preis bleibt erhalten. Die Kunst hat sich nicht aus der Höhle des Kärntner Löwen davongestohlen. Der Ruf der Weltsprache mit ihren irritierenden Perspektivwechseln und befremdlichen Bildern kommt weiter aus und wirkt weiter in die Provinz, die Haider möglich gemacht hat. Zum 25. Jubiläum im nächsten Jahr soll die Preissumme sogar einmalig verdoppelt werden. Freilich hat der Streit um den Preis eine sanfte Standortveränderung der Literatur bewirkt, die womöglich folgenreicher ist als die Frage, in welcher Stadt er stattfindet.

Zwar gibt es noch den Preis der Stadt Klagenfurt als Hauptpreis des Wettbewerbs. Aber auch wenn sich Kärtner Bürger direkt für den Wettbewerb engagieren. Mit Haiders einseitigem Rückzug des Landes Kärnten hat die Literatur ein Stück demokratischer Massenverankerung verloren. Denn so löblich die Übernahme des alten Kärntner-Preises durch den Generalsponsor der österreichischischen Telekom als "Preis der Jury" ist. Der ohnehin schon stark medialisierte Literatur-Wettbewerb hat sich damit weiter auf das Terrain des Audiovisuellen bewegt. Noch ist es nicht so wie in Susanne Riedels "Knoten"-Geschichte, wo die Glückskäfer hinter dem Kandidaten bei jeder Bewegung ekstatisch zu klatschen beginnen. Doch von den Laufnummern in den immer marktschreierischen Vorstellungsfilmen der KandidatInnen bis zum Laufenden Band ist es nur ein kleiner Schritt. Für die Präsentation der Kunst gilt offenbar das Gleiche wie für ihre unvergleichliche Wirkung. Wie schrieb Birgit Kempker in ihrem leider nicht prämierten Wettbewerbstext Was hab ich in Klagenfurt zu suchen: "Die Kunst ist vogelfrei. Wer schiessen will, schiesst. Die Kunst wehrt sich nicht. Sie greift nicht an. Sie verwandelt."

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