Fenster zum See

Doppelcharakter 40 Jahre Literarisches Colloquium in Berlin

Die Literatur währt ewig. Diesen Eindruck hat man jedenfalls, wenn man das Haus am Sandwerder 5 am Berliner Wannsee betritt. Die holzgetäfelte Lobby, die Auffahrt aus vornehm knirschendem, weißen Kies - all das erinnert mehr an Literaturverfilmungen wie Orlando oder Internatsdramen wie Maurice. Die Diskussion von der Krise, gar vom Ende der Literatur fällt sofort von jedem ab, der auf der Terrasse von Berlins erstem und ältestem Literaturhaus steht und auf den blauen See zu seinen Füßen schaut. Ruderer ziehen ihre Bahn, am Horizont blähen sich weiße Segel. Vom Nachbargrundstück dringt gedämpftes Gesellschaftsgemurmel. Das Gefühl unvergänglicher Bürgerlichkeit und Erhabenheit, das sich in dem skurrilen Umfeld aus neureichem Bauhaus und historisierenden Ritterburgen im noblen Berliner Südwesten einstellt, überdeckt sofort jede urbane Unruhe und intellektuelle Nervosität.

Doch Kulissen können trügen. Wer heute an den Wannsee fährt, muss auch immer ein klein wenig Überwindungskraft aufbringen. Das Literarische Colloquium (LCB), das der Schriftsteller und Philologieprofessor Walter Höllerer im Mai 1963 erst in einem Berliner Bücherkeller, und dann in der leeren Villa eines Wurstfabrikanten aus der Taufe hob, mag zwar ein "Haus in der Mitte der Literatur" sein, wie der Titel einer eigens für das Jubiläum aufgelegten Broschüre behauptet. Doch schon wenn man in der S-Bahn zum Südzipfel Berlins sitzt, spürt man die Schwerkraft der wirklichen Berliner Mitte im Osten Berlins im Nacken. Mehr als schon zu Mauerzeiten markiert der Wannsee heute eine extreme Randlage.

Niemand kann die Leistungen dieses wichtigen intellektuellen Freiraums an seinem Ufer vom Tisch fegen, das den Teilnehmern einer der ersten Treffen der Gruppe 47 noch wie "ein Labyrinth von Gerümpelkammern" vorkam. Höllerer hat mit seiner anspruchsvollen Literaturarbeit das Deutschland des Nachkriegs wieder an die europäische Moderne angeschlossen. Und ein Multifunktionszentrum hinterlassen. Wenn es das LCB nicht gäbe - man müsste es schleunigst erfinden: seine Autorenwerkstatt, in der das "Fräuleinwunder" Judith Hermann ausgebrütet wurde, die Sommerakademie für Übersetzer, die Arbeitsstipendien für junge SchriftstellerInnen, die Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter oder den Döblin-Preis, die unsichtbare Beratungsarbeit im Hintergrund, das Netzwerk aus tausend Fäden, mit dem sich heute bedrohte Kunstarten stabilisieren und schützen.

Niemand sollte auch die piktoriale Deutungsmacht unterschätzen, die von den Autorenporträts der Hausfotografin Renate von Mangoldt ausgeht. Doch die Konkurrenz nach 1989 - die verrauchten Lesebühnen und blätternden literarischen Hinterzimmer von der Torstrasse bis nach Friedrichshain haben eine urwüchsige Neubelebung der Literatur von ihren oralen Ursprüngen her durchgesetzt, wie sie keine Literaturakademie mit Turmzimmer und Seeblick sich je hätte ausdenken können. Der Osten lockt mit street-credibility. Am Wannsee gibt das großbürgerliche Ambiente immer schon ein Gefühl vor, das noch jeden literarischen Exzess oder die exhibitionistische Lust an der Kunst ins Gesetzte, eben ins Colloquiale besänftigt hat. Die unvergleichliche Mischung aus Hedonismus und Oppositionsgeist, die die Berliner Mitte immer noch attraktiv macht, findet (oder sucht) man am Wannsee nicht unbedingt.

Spüren konnte man diese soignierte Grundstimmung wieder am vergangenen Freitag. Bei dem Festakt zum vierzigsten Geburtstag gab es zwischen den obligaten Ansprachen ein Streichquartett. Festlich sollte es zugehen. Aber auch nicht zu klassisch. Wer trotz der graugedeckten Jubiläumsfreude Ohren hatte zu hören, vernahm erstaunt, dass die vier jungen Cellisten nicht ins klassische Repertoire griffen, sondern ins populäre: Abba und Procul Harum, mithin eine Hommage an die siebziger Jahre, erklangen statt Dvorak oder Haydn. Verschämte, verspätete Modernisierung im Gehäuse der Klassik. Das war so recht ein ästhetischer Kompromiss, der den Doppelcharakter des LCB sinnfällig machte. Zeit-Kritikerin Iris Radisch bemühte das Bild vom heiteren Familienbetrieb. Der verbirgt seine Streitereien bekanntlich gern vor der Öffentlichkeit. Deshalb tagt der von Fontane inspirierte Autorenkreis "Tunnel über der Spree" seit ein paar Jahren auch nicht mehr öffentlich. Die Versuchsstation der Moderne unmittelbar nach dem Krieg ist heute ein Haus von Verwandten und Bekannten, die sich kennen, schätzen, belobreden und selten in die Suppe spucken - mit Ulrich-Haste-mal-ne-Kippe?-Janetzki als (manchmal sehr kumpeligem) "Herbergsvater". Ästhetische Provokationen gehen von dem "zielgruppenorientierten Dienstleister mit "repräsentativen Räumlichkeiten", dem der urige Motorradfreak vorsteht, eher selten aus. Es herrscht hier eine gewisse lautlose Effizienz auf hohem Niveau.

Dabei hatte des Hauses geistiger Mentor Höllerer, der im letzten Jahr seinen 80. Geburtstag feierte, als experimenteller Lyriker angefangen. 1965 veröffentlichte Höllerer seine Thesen zum "Langen Gedicht". Damit wollte der unorthodoxe Avantgardist eine freizügige "Gegenbewegung gegen Einengung in abgegrenzte Kästchen und Gebiete" anstoßen und die Literatur aus dem Landsitz ihrer behaglichen Selbstbezüglichkeit mit den gedrechselten Chinoiserien auf dem Kaminsims herauslocken. In Sachen Politik hat sein selbstverliebter Kollege Hans-Magnus Enzensberger inzwischen zwar manchmal einen ziemlichen Knall. Aber der Satz, mit dem er zehn Jahre später in seinem Werk Mausoleum - 37 Balladen aus der Geschichte des Fortschritts, Höllerers Thesen indirekt zugestimmt hatte, wäre auch heute nicht zu verachten: "Die Republik wird erkennbar, die sich befreit".

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