Darf man einen Roman Guantánamo nennen? Das Befremden über den Text, den die Hamburger Schriftstellerin Dorothea Dieckmann Ende Juni beim Klagenfurter Literaturwettbewerb vorlegte, war den JurorInnen anzusehen. Ein so massives Aufrufen außerliterarischer Annahmen - schon im Titel eines Textes - war ihnen in den letzten Jahren lange nicht vorgekommen. Vor lauter Misstrauen, hier halte sie die Vorstufe auf einen geschickt placierten Bestseller in Händen, der mit einem explosiven politischen Thema spekuliere, kam die sonst so differenzierte schweizer Jurorin Ilma Rakusa nicht dazu, sich zu einem ästhetischen Urteil durchzuringen. Die Hohepriesterin der ästhetischen Avantgarde beließ es dabei, ihre ratlose "Skepsis gegen den Homo Politicus" zu artikulieren.
In der Tat ist das, was der Münsteraner Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Burkard Spinnen "Authentizitätseffekte" nannte, bei Dieckmanns Werk unüberhörbar. Der Name des amerikanischen Militärstützpunkts auf Kuba, wo seit dem Januar 2002 zur Empörung großer Teile der Weltöffentlichkeit gut 600 durch die US-Armee gefangen genommene Häftlinge aus rund 40 Ländern in einem rechtsfreien Raum inhaftiert sitzen, eröffnet einen solchen politisch-moralischen Widerhall von Kabul bis Washington, dass einem angst und bange wurde, als der Verlag das Buch im Frühjahr in seiner Verlagsvorschau ankündigte. Welcher Teufel mochte die 1957 geborene Dieckmann geritten haben, ausgerechnet ein Thema von so bedrängender Aktualität als literarischen Stoff zu wählen? Würde selbst eine so versierte Autorin und mehrfache Literaturpreisträgerin nicht auf dem Glatteis der politischen Literatur ausrutschen? Wollte sie Michael Moore Konkurrenz machen?
Dieckmann hat nun aber gerade keine populistische Anklage gegen das US-Unrechtsregime auf der Südspitze Kubas geschrieben. Auch keinen Thriller mit Indizienjagd zwischen Zellenpritsche und Pentagon oder ein Gefängnisprotokoll. Sondern mit diesem, gerade mal 150 Seiten starken Büchlein ist ihr eine beeindruckende literarische Variante des Ausnahmezustandes in Gestalt des "Lagers" gelungen, das für den italienischen Philosophen Giorgio Agamben die eigentliche, die neue Grundlage staatlicher Macht darstellt.
Man muss nicht genau wissen, wie es auf Guantánamo zugeht, um darüber einen Roman zu schreiben. Gerade das Nichtwissen ist oft ein literarischer Stimulus allerersten Ranges. Die Details über das "Leben" auf Guantánamo, die Dieckmann benutzt, kann man aus dem Internet und Berichten von Entlassenen recherchieren. Insofern trifft auch der Vorwurf der Zeit-Kritikerin Iris Radisch nicht, hier handele es sich um eine "erborgte Tragödie". Diese spärlich gestreuten Fakten ergeben gerade das richtige Maß an realistischer Kulisse, um dem eigentlichen Thema einen effektsteigernden Kontrast zu bieten. Guantánamo liest sich nämlich wie eine Versuchsanordnung zu der Frage: Was ist das Schicksal des Menschen in "dem Lager"?
Von Dieckmanns inhaftiertem "Rashid" weiß man nicht sehr viel. Sein Schicksal ähnelt dem Anfang Juli aus Guantánamo entlassenen schwedischen Moslem. Auch Rashid wurde irgendwo an der Grenze zu Afghanistan festgenommen. Eines Tages saß er dann im Lager: "Eingepackt, wegtransportiert, aus dem Flugzeug geworfen, wieder ausgepackt, neu verschnürt, die Hände in wattierte Handschuhe gesteckt, Augen und Ohren zugeklebt, eine Mütze auf den Kopf gesetzt, Mund und Nase verhüllt, auf den Boden geworfen, liegen gelassen, schief in sich selbst verwickeltes, geballtes Fleisch."
Das klingt nun schwer erbarmungswürdig, ein wenig nach Amnesty-Literatur. Aber Dieckmann macht es sich nicht leicht. Sie kalkuliert nicht auf den billigen Beifall, den man mit einer Opferperspektive schnell einheimsen kann. Aus den übereinander geblendeten Traumsequenzen, mit denen der Häftling sein Leben erinnert, lässt sich bis zum Schluss nicht entnehmen, ob Rashid nur seine Großmutter in Indien besuchen wollte und beim Trampen an die afghanische Grenze im pakistanischen Peshawar durch einen dummen Zufall in die Hände der Polizei geraten ist. Oder ob er nicht doch ein geheimer Kämpfer ist - auf dem Weg zu dem geheimnisvollen Labyrinth unter Tage in Damaskus, wo sich die Märtyrer für den großen Kampf sammeln.
Guantánamo ist also auch kein J´accuse für einen zu Unrecht Inhaftierten. Vielmehr hat Dieckmann das Prinzip des Lagers nach innen gewendet. Mit einer hermetischen Innenperspektive zeigt sie Rashid in einem rechtlichen und sozialen Vakuum, im zermürbenden Kampf gegen Zeit und Raum. Die Gegenwart ist zwar endlos gestreckt. Aber der Horizont ist so bedrückend nah wie die Zellenwände. Die, besonders perfide, in diesem Fall aus Maschendraht sind. Die Gedankenfluchten in Zukunft und Vergangenheit enden jedesmal mit der Erkenntnis: "Aber der Käfig war stärker." Dagegen hilt Rashid nur die Vorstellung, "sich von oben zu betrachten". So schwingt er sich im Geiste in die Lüfte, sieht sich selbst auf einem Stuhl sitzen und glaubt: "Ich bin ein Adler." Aus der Dialektik von Enge und Weite gelingt ihm für Momente mit dieser Selbstdistanzierung eine imaginäre Befreiung.
Natürlich gibt es in diesem Buch erwartbare Dinge, die unbefangene Leser für einen dokumentarischen Bericht halten könnten: Dass den Häftlingen die Zeit lang wird, ihre orangefarbenen Haftanzüge, das Ambiente aus Kloake und Schamverlust, dass man anfängt, den Soldaten im Verhör nach dem Mund zu reden, um öfter duschen gehen zu dürfen. Selbst der (erfolglose) Suizidversuch Rashids, mit dem er seinem inhaltslos gewordenen Leben ein Ende setzen will. Doch spätestens bei der mintgrünen Zahnpasta, die dort alle Häftlinge gestellt bekommen, wird das Prinzip deutlich, durch metaphorische Verdichtung die Zurichtung zum prototypischen Gefangenen und den Auseinanderfall des Subjekts zu beschreiben. "Wenn Zahnpasta in der Sonne trocknet, wird sie brüchig. Sie erstarrt, bekommt Risse, schrumpft. Zugleich bleicht sie aus ... Schließlich pulverisiert der Belag, bis man ihn wegpusten kann ... verschwindet als weißer Staub, in Tagen, Wochen."
Dieckmann liefert also mehr als nur ein literarisches Phantombild des "feindlichen Kämpfers", des "enemy combatant", jenes rechtspolitischen Monstrums, mit dem die USA negative Völkerrechtsgeschichte geschrieben haben. Was der unbekannte Erzähler über eines der wenigen geduldeten Zellen-Utensilien weiß, ist das Symbol für den langsamen Identitätsverlust der streng isolierten Häftlinge. Das Ich bleicht aus. Mit seinen sechs Kapiteln: Down, Food, Kill, Death, Jihad, Happy End ist Dieckmanns Roman wie ein minimalistisches Lehrstück aufgebaut. Guantánamo ist ein Kammerspiel der Entindividualisierung und Entwirklichung. Dieser Verlust manifestiert sich im Entzug des Gegenüber. Die anderen Gefangenen in den Maschendrahtkäfigen sieht Rashid immer nur wie einen Spiegel seiner selbst: beim Schlafen, beim Gebet. Zu ihnen oder dem islamischen Geistlichen kann er keinen echten Dialog nach dem Buberschen Motto Du und Ich aufbauen. Der Ukrainer nebenan wichst sich in den Schlaf. Und der kleinen Eidechse, die ab und zu durch die Zelle huscht, kann man zwar etwas erzählen, antworten kann sie aber nicht. Zum Schluss regrediert Kirat zu einem diffusen Schemen, löst sich quasi in seine Umgebung auf, eine Schattenexistenz.
Wenn die Untersuchungsausschüsse des US-Kongresses, die kürzlich die Rolle der Geheimdienste bei Nine-Eleven untersucht haben, feststellten, dass die US-Regierung bei der Bekämpfung möglicher Gefährdungen des Landes einen erschreckenden "Mangel an Vorstellungskraft" bewiesen habe, dann dürfen wir Dorothea Dieckmann bescheinigen, dass sie eine bessere Amerikanerin als George W. Bush ist. Mit dieser Vorstellungskraft hat sie ein Bild der Gefährdungen des Menschen geliefert. Wenn Michael Moores Waffe das grell bemalte Plakat ist, dann ist Dorothea Dieckmanns Waffe die entwickelte Sprache. Auch wenn der allzu realitätsmächtige Titel ihrer komprimieten Imagination immer wieder in die Quere kommt: Man liest diesen Roman, als würde man in einer poetischen Hochdruckkammer sitzen - einer Zelle, der man nicht entfliehen möchte.
Dorothea Dieckmann: Guantánamo. Roman. Klett-Cotta, Stuttgart 2004, 160 S., 16,- EUR
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