"So was dürfte eigentlich gar kein Kulturredakteur sein." M. ist wieder mal fassungslos. Ich habe schon wieder den Europa-Pokal der Landesmeister mit der Europameisterschaft verwechselt. Es will mir einfach nicht gelingen. Nein. Ich interessiere mich nicht für Fußball. Ich schaffe es nicht. Ich will es nicht. Ich weiß, ich weiß: Fußball ist so ein schönes Spiel. Als Spiel. Man kann hoffen und fürchten wie kaum sonst irgends. Und herrlich drüber reden. Außerdem ist er ja auch kultursoziologisch wahnsinnig interessant. In Norbert Elias' Theorie der Zivilisation ist er ein Anwendungsfall für den Prozess der Gewaltkontrolle. Die direkte Aggression wandert ins Ritual. Wird Kultur, könnte man sagen. Englische Soziologen haben ganze Bibliotheken vollgeschrieben damit, wie sich Boxen oder der Fußball verrechtlichen. Im Laufe der Jahrhunderte verschwindet der Körperkontakt, wird nur noch mimetisch ausagiert Fußball ist also eine Art Massentheater. Das Schattenboxen des Westens sozusagen. Wenn auch nicht so elegant. Außerdem ist Fußball natürlich ein Massensport, an dem ein aufrechter Linker wenn schon nicht Gefallen, dann zumindest Interesse finden müsste. Und er ist ein Abbild der Welt. Alles richtig. Trotzdem, wollte man diesen Theorien allen auf den Grund gehen, müsste man sich natürlich auf die realen Erscheinungsformen einlassen. Und da hört es dann auf. "Eine kalte Sache" hatte sich schon vor Jahr und Tag der Fußballmuffel Willy Brandt nach einem pflichtgemäßen Besuch im verregneten Dortmunder Westfalenstadion gequält gefreut.
Auch meine Karriere als Fußballforscher ist daran gescheitert, dass die Theorie interessant ist, aber zu spät kam. Und davor waren die Details uninteressant. Damals. Was waren das für verschwitzte Sonntagabende in durchlöchertem Trainingsanzügen auf staubigen Bolzplätzen im Schatten der Frankfurter Bundesbank. Gegen die robuste Natur meiner Brüder hatte ich nicht den Hauch einer Durchsetzungschance. Mit derselben brutalen Wucht, mit der sie da in eine Gasse grätschten, bei der man immer denken musste, das es ihnen das Bein weg- oder sie ganz auseinanderreißt, haben sie Samstagsabends beim Fernsehen immer ohne zu fragen vom Spielfilm im Ersten auf dieses grässliche Aktuelle Sportstudio im Zweiten umgeschaltet, um diesen stammelnden Idioten mit zu breitem Schlips zuzuhören. Ich mied körperliche Zweikämpfe. Die Kameraderie rauhbeiniger Gesellen, die in Umkleideräumen getrocknete Blutkrusten von den Schürfwunden rissen und in Stollenschuhen liefen, aus denen die Grasbüschel lugten, war meine Sache nicht. Ich habe nie auch nur einen Fußballschuh besessen. Doch wer vom Fußball redet, darf vom Eros nicht schweigen. Natürlich kitzelte der virile Charme mancher dieser Beinarbeiter in kurzen Hosen. Doch ich kann mich an keinen einzigen Namen derjenigen erinnern, über deren Köpfen ich auf dem Fanposter meines Bruders in der gemeinsamen Mansarde ein Plus-Zeichen markierte. Haudegen waren keine darunter. Eher solche, die so versonnen dreinschauten, als ob sie nicht dazugehörten. Ihre Männerbünde blieben mir immer verschlossen. Elf Freunde hatte ich nie. Soldat wurde ich aus Angst.
Außerdem konnte ich mir die Regeln nicht merken. Hundertmal habe ich mir das Abseits erklären lassen. Und danach sofort wieder vergessen, was es ist. Bis heute weiß ich nicht mehr, als dass das eine gefährliche Falle ist, in die man geraten kann, wenn es vor dem gegnerischen Tor ziemlich leer aussieht. Alternativen zum Fußball in der Sportstunde scheiterten in schöner Regelmäßigkeit an unserem Sportlehrer. Immer wieder schlug ich vor, statt Fußball doch mal Hand- oder gar Völkerball zu spielen. Der bekennende Basisdemokrat ließ abstimmen. Ich gestehe: das waren so Momente, wo ich am Mehrheitsprinzip zweifelte.
Ganz konnte man sich als Frankfurter Junge bei dem Männersport natürlich nicht ausklinken. Ich war da aber nur sozialisatorischer Mitläufer. Aus lokalpatriotischen Gründen gab ich mich als Fan der Eintracht aus. Das schwarz-burgunderrot gestreifte Trikot hatte einen ästhetischen Reiz. Überhaupt umgab "die Eintracht", die "launische Diva vom Main" damals noch der Ruch des eleganten und intellektuellen. Die war was besonderes. Am Wochenende bin ich dann halt schon mal mitgegangen. Von meinen Besuchen im Frankfurter Waldstadion ist mir aber nur noch die heiße Limonade in Erinnerung, die man dort im Winter kaufen konnte. So wie ich als Knirps sonntags nur deswegen in die Kirche gegangen bin, um die 50 Pfennig für den Klingelbeutel in 50 Ein-Pfennig-Kau-Fruchtbonbons umzusetzen und die leeren Papiere, zu Kügelchen geformt, in den Samtsack zu leeren, bin ich ins Stadion nur wegen dieser Getränke gegangen. Im Winter tauchte während des Spiels immer ein Mann mit einem aufklappbaren Holzkasten in den Reihen auf. Darinnen dampften gelbe Limonadenflaschen der Marke Florida Boy Orange und Apfelwein. Auf dem Spielfeld habe ich recht bald den Überblick verloren. Von oben gesehen war es wie ein ungeregeltes Mühlespielen, wo die Spieler wie schwarze Knöpfe so hin- und herzogen und in Windeseile den Platz überquerten. Man wusste aber nicht so recht warum. Mir war immer der Antrieb unklar, plötzlich einen Haken zu schlagen und in die genau entgegengesetzte Richtung zu rennen. Die netten Jungs auf den Mannschaftsfotos aus dem Kicker konnte man von hier oben sowieso nicht sehen. Nach einer halben Stunde wurde es mir langweilig. Das Gefühlsinferno um mich herum perlte an mir ab wie Regentropfen von der Öljacke. Nationalen Erregungen bei der Weltmeisterschaft zeigte ich demonstrativ die kalte Schulter. Als Deutschland 1974 nach dem schnellen Führungstreffer von Neeskens doch noch Weltmeister wurde, saß ich seelenruhig im Baum und pflückte Kirschen. Unten im Stadion wiederholte sich das unerklärliche Hin und Her endlos. Von mir aus sollte die Eintracht natürlich gewinnen, aber möglichst schnell. Ich hoffte auf den Schlusspfiff, ärgerte mich über jede Verlängerung, die mich in der johlenden Masse festhielt. Das eigentliche Erfolgserlebnis hatte ich, wenn ich dem Lockruf des Getränkeverkäufers nachgab: "Florida, heiß!"
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