"Wie gern ich in Frankfurt bin. Stadt meines Verlages, meiner beruflichen Existenzmitte, mitten in Deutschland." Was Rainald Goetz in seinem Internet-Tagebuch Abfall für alle im Frühjahr 1998 notierte, passt haarscharf auf den intellektuellen Streit im Spätsommer 2003. Ein mittelgroßes Bürogebäude im Frankfurter Westend schien zum Zentrum der Republik avanciert. Die Frage, wer sich da anschickte, in die Leerstelle zu treten, die Siegfried Unseld im Suhrkamp-Verlag hinterlassen hatte, schien brisanter als die Nachfolge von Johannes Rau im Berliner Schloss Bellevue.
Der Subton einer geistigen Zentralität schwingt bei der Nennung des Namens Suhrkamp immer mit. Kein Wunder bei einer Autorenschar von Hermann Hesse bis Slavoj Z?iz?ek. Mit Händen greifen ließ sich dieses geheime Gravitationszentrum auf der letzten Frankfurter Buchmesse beim Gedenkakt für den toten Unseld. Wenn eine private Trauergemeinde so selbstverständlich die Paulskirche beansprucht, hat das zwar auch etwas Beruhigendes. In Deutschland berufen sich ja nicht alle mit der gleichen Verve auf diese demokratische Tradition. Es symbolisierte aber auch eine Anmaßung: In Frankfurt sammelt sich die Geistesrepublik, die Witwe intoniert ihre Regierungserklärung, in Berlin werkeln die Techniker der Macht - hier manifestierte sich die Neuauflage einer deutschen Dichotomie. Wer dieser Selbstüberschätzung anhängt, muss den plötzlichen Wechsel von Unselds Witwe Ulla Berkéwicz vom Stiftungsrat des nachunseldschen Suhrkamp-Verlags in dessen Geschäftsführung natürlich als Bruch mit der Gewaltenteilung, gar als Putsch empfinden.
Man braucht einen Gegenpol der Zivilgesellschaft, der der offiziösen Selbstdefinition eines Landes fern steht und sie aus alternativen Quellen speist. Und hat dieser Nukleus nicht Ungeheures geschafft? Es bleibt ein faszinierendes Bild, wie sich Siegfried Unseld, Martin Walser, Uwe Johnson und Hans-Magnus Enzensberger im Sommer 1962 zu einem Gespräch am Bodensee treffen. Am Gartentisch entstand da mit der edition suhrkamp eine Art Hausbibliothek der Republik, ein volkspädagogisches Programm auf höchstem Niveau, wie es kein Bundestags-Kultur-Ausschuss je zustande gebracht hätte. Doch wie weit reichte der Einfluss dieser Massenaufklärer wirklich? Seit der Rede eines Hinterbänklers schaut die Republik in einen geistigen Abgrund. Haben Tausende von Adorno-Taschenbüchern aus dem Hause Suhrkamp die Deutschen mit Aufklärung immunisiert? Um diesen Geistesolymp spürt man auch immer öfter den Geist einer auserwählten Gemeinschaft. Er war den trauernden Autoren in der Paulskirche an der Nasenspitze anzusehen. Wer sich nobilitiert sehen möchte, strebt zu Suhrkamp. Den "irrationalen familiären Aspekt" hatte der scharfsinnige Rainald Goetz diesen unerklärten Corpsgeist bei einem Treffen junger Suhrkamp-Autoren mit dem alten Unseld einmal genannt. Er passt aber so wenig zu einem Flaggschiff der gesellschaftlichen Aufklärung wie die Überinszenierung Suhrkamps als Familiendrama mit Walküre oder zu der Informationspolitik des Verlages in den letzten Monaten - eine Art ungeschriebener Suhrkamp-Roman.
Doch auch auf der Gegenseite sind Projektionen im Spiel. Was Lafontaine für die SPD-Linke und Schwarzenegger für die kalifornische Mittelschicht, ist Suhrkamp für die Intellektuellen: Der Held, der das eigene Unvermögen kompensieren, mit der Unvernunft aufräumen möge. Als ob es die eine Zentralinstanz der Aufklärung gäbe. Suhrkamp ist nur ein Verlag. Auch Unseld konnte in seinen besten Zeiten nur den Geist bündeln, den er vorfand. Und wenn es eine Krise der Aufklärung gegeben haben mag, dann sicher nicht, weil Suhrkamp gelegentlich seine Verlagsprogramme ändert, sondern, weil es auch eine Krise des Denkens gab.
Ob Ulla Berkéwicz Bücher "machen" kann - diese Frage sollte man gelassen sehen. Es gibt keine geborenen Verleger. André Schiffrin, einer der Großen des Verlagsgewerbes, warnt seine Branche vor einer Zukunft mit "Verlagen ohne Verleger", Heiner Müller sprach vom "Ende der Handschrift". Und werden die Kulturdistributeure hinter den anonymen Fassaden des Containerkapitalismus nicht tatsächlich unsichtbar? Wer kennt noch die Verleger der wie Einkaufstüten zwischen den Branchenriesen hin- und her geschobenen Waisen Ullstein, Heyne, List? Mag die Frankfurter Witwe auch von Nebeln aus Antifaschismus bis Esoterik umraunt sein: Wenn Ulla Berkéwicz sich in diesem Umbruch zutraut, ein auslaufendes Format neu zu beleben, wenn sie dem Verlegen wieder ein Gesicht geben will, muss man ihr doch eigentlich Glück wünschen.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.