Nachts in den Tiergarten. Es ist stockfinster. In einem Waldstück eine Gruppe von Männern. Einer beugt sich - nackt - vor, hält sich an einem Lederkerl fest. Ein anderer steht hinter ihm und befriedigt ihn mit seiner Faust. Die extreme Stimmung ist wie ein Ritual. Stille. Nur die tiefen, vibrierenden Atemzüge des »Gefisteten« sind zu hören«. Bei der sexuellen Extremsportart, die der 1993 verstorbene Berliner Kunstkritiker Wolfgang Max Faust in einer Szene seines Erinnerungsbuch Dies alles gibt es also. Alltag Kunst AIDS beschreibt, denkt man eher an einen Geheimbund als an die entspannte Laszivität, mit der die gay community inzwischen zum Trendsetter des heterosexuellen mainstream aufgerückt ist. Daß schwules Leben aber trotz aller schrill und vielfältig nach außen demonstrierten gay-pride immer noch eine Welt der unausgesprochenen Vereinbarung und lautlosen Rituale ist, zeigt der Roman Der nackte Soldat des österreichischen Autors Belmen O. Nicht nur, weil auch dort sein Held Alwin schweigend einen Mann fickt, der nackt im Wald herumsteht.
Daß sich irgendein Prominenter aus Angst hinter dem merkwürdigen Pseudonym Belmen 0 verbirgt, weil Homosexuelle in Österreich immer noch diskriminiert werden, wie Elfriede Jelinek in einem etwas angestrengten Nachwort anklagt, ist unwahrscheinlich. Denn die allzu vollmundig als Roman bezeichnete, autobiographische Lebensgeschichte im Wien der siebziger bis neunziger Jahre ist kein tränenreiches Coming-Out-Melodram. Der Moment, an dem ihm die eigene Homosexualität bewußt wird, erlebt er (endlich einmal) nicht als Stigmatisierung, sondern als Versprechen. Als Eintritt in das weltumspannende Netz einer lustvollen Gemeinschaft: »Nie wieder würde er ängstlich alleine bleiben, immer würde noch einer da sein, der die Kette, die ihn mit allen verbindet, nicht abreißen lässt.« Doch die Ungeduld des Herzens führt ihn nicht zu den Gipfeln des Glücks. Zwar tat er »nichts, was nicht in das rosa Licht seiner stets hellwachen Sinne getaucht war«. Noch bei den Fernsehbildern vom Ende des Golfkrieges schaut er den gefangenen irakischen Soldaten, die mit nacktem Oberkörper durch die Wüste stolpern, zuerst auf die Unterhose. Dieses Leben besteht ausschließlich aus Stationen der Begierde. Rainald Goetz spricht in seinem Roman Rave vom spielerischen »Blickekonzert« in der Techno-Disco. Alwins alles, auch den Beruf verdrängenden, schwulen Alltag beherrscht das Regime der Blicke, eine ständige erotische Rasterfahndung mit der Aufklärungskapazität von Tarnkappenbombern: das blitzschnelle Taxieren attraktiver Männer. Der schnelle Verschwörerblick mit dem Steward im Flugzeug oder dem Bettler auf der Parkbank neben einem Bukarester Pissoir. Der Kontrollblick, ob die »normale« Umgebung etwas merkt. Selten wurde das Repertoire der unmerklichen Gesten, geheimen Zeichen und schweigsamen Rituale des schwulen Lebens so peinigend genau und ohne einen Funken Larmoyanz beschrieben. Es versöhnt mit den Nachteilen der alles erklärenden Berichtsform, daß sich Belmen O der schwulen Parallelwelt, die auch die seine ist, mit einem kühl sezierenden Blick nähert und zu einer existentiellen Hermetik verdichtet: »Dort liegen sie, eingecremt auf harten Holzpritschen, schlank und körperbewußt bis ins hohe Alter, krebsverachtend braun, jeder für sich auf seinem Holzfloß in der über dem Steinboden flirrenden Luft zum Stillstand gekommener Schiffbrüchiger« beobachtet er im Wiener Stadionbad.
Alwins Gier, die ihn nach immer neuen erotischen Reizen Ausschau halten läßt, bestätigt die Tatsache, daß der sexualisierte Blick, der sich seit dem 19. Jahrhundert entwickelt hat und als Beleg für den freieren Umgang mit Sexualität gilt, das Begehren selbst stillgestellt hat. Sinnbild dafür ist die Szene, als Alwin im Wiener Kunsthistorischen Museum einen Rumänen kennenlernt, dem er später nachreist, eine West-Ost-Reise mit enttäuschendem Ausgang. Gemeinsam betrachten sie ein Bild Giorgiones, auf dem ein alter Mann den freiliegenden Halsansatz eines Soldaten betrachtet. Auch die Männer, die in einem amerikanischen Club im Kreis stehen und den Akt in der Mitte des darkrooms betrachten, berühren sich nicht. Die erotische Spannung entsteht in dem Zwischenraum des Blicks. Hier bündeln sich Machttrieb, Angst und Gier zu Lust. Als sich Alwin im Keller eines SM-Liebhabers auszieht, ist es der unsichtbare Blick des nicht erscheinenden Mannes aus einer verborgenen Linse, der Alwin erregt.
Sinnfälliger wird in dem Pseudonym deshalb neben der Distanz des Sexmaniacs zu dem Objekt der Begierde, die er trotz seiner »polypenhaften Gefräßigkeit« nie überwinden kann, vor allem die zu sich selbst. Belmen O spricht wie Jan Philipp Reemtsma in seinem Entführungsbericht Im Keller von sich in der dritten Person und beginnt auf der Reise nach Rumänien Dialoge mit sich selbst als »Erzwo«. Zusammen mit der Marotte, auf seinen Sexreisen rund um die Welt sich erfundene Namen samt Lebensgeschichte zuzulegen, weitet sich dieser Lebensbericht zu einem postmodernen Identitätsspiel. So viel innere Entfernung kann nur in der Extrem erfahrung aufgehoben werden. Die ersehnte, aber immer wieder abgewehrte Nähe kommt erst mit dem bohrenden Schmerz, den ihm der Unbekannte zufügt, in dessen Keller Alwin sich auf eine Metallpritsche fesseln lässt. Doch das Glück, nach dem er so lange gesucht hat, erscheint ihm nur für einen Bruchteil zwischen zwei geschlossenen Augendeckeln. Die Entfernung der Körper, das Schweigen der Lust, das Glück, das drei Sekunden zählt - der immer entblößungswütigere schwule Geheimbund erlebt, was alle erleben. Nur extremer.
Belmen O: Der nackte Soldat. Roman. Mit einem Nachwort von Elfriede Jelinek. Ritter-Verlag, Klagenfurt und Wien 1999, 178 S., 29,- DM
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