Generation dazwischen

REGEN IM HERZEN In seinem Debütroman »Icks« gelingt es dem Berliner Schriftsteller Ralf Bönt, die Sprache für eine Generation zwischen allen Stühlen zu finden

Kann man Generationen erfinden? Und ob. Wer glaubt im Gender-Zeitalter noch an »natürliche« Generationenfolgen? Die Generation 68 war genauso eine aus dem Boden gestampfte Identitätskohorte wie die Generation Mitterand, die Generation 78 genauso eine Erfindung wie die Generation 89. Jüngste Kreation der Generationenküche war die »Generation Berlin«, jene Truppe »undogmatischer Pragmatiker«, die die Hamburger ZEIT erfunden hat. In chicen amerikanischen Bagellokalen in der mondänen Berliner Mitte kauen sie der Berliner Republik tabulos die neuen intellektuellen Stichworte vor.

Man würde dem 1964 geborenen Schriftsteller Ralf Bönt Unrecht und schweres Leid antun, wenn man seinen klitzekleinen Debütroman Icks nun zum Antibild dieser Generation aufmotzen würde. Obwohl die Welt des arbeitslosen Akademikers mit Kind und Hang zur Bohème, die er darin beschreibt, der Realität der ominösen Generation Berlin vermutlich näher kommt als das Hamburger Lichtbild. Bei Bönt wabern keine Gründerzeitmythen. Zäh fließt der Teig der ereignislosen Perspektivlosigkeit. Aus der ostwestfälischen Provinz kommt sein Alter-Ego namens Icks in die angebliche Kulturmetropole, nachdem er, wie sein Erfinder Bönt, eine Karriere als Naturwissenschaftler hingeworfen hat. Hier tobt angeblich das Leben. Doch er mäandert nur zwischen Arbeitsamt, befristeten Stellen, nutzlosen Kontakten und vagen Projekten hin und her, haust in einer furchtbaren Wohnung, steht auf dem Weg ins Theater theatralisch auf zugigen U-Bahnhöfen und möchte endlich, endlich sein Leben verschwenden. Der ganz normale Alltag des intellektuellen Proletariats also. Kein Bagel, nirgends. Aber auch der Titel spricht Generationenbände. Denn Icks, die Lautschrift des drittletzten Buchstabens im Alphabet, spielt auf eine legendäre Identitätsmarke an: Douglas Coplands Generation X. Auch der trostlose Held dieses Erstlings ist ein Aussteiger aus der Nicht-Existenz der Erfolgreichen zwischen Vermögenssteuertricksereien und Lackschäden an der Statusbüchse. Wie seine fröhlichen Aussteigerkollegen im kalifonischen Palm Springs will er sich mit einer erzählten Geschichte einen Lebenszusammenhang konstruieren.

Dieser Ausbruch aus der geistigen und geographischen Provinz entfaltet sich als Erinnerungsmonolog. Im Flugzeug auf dem Weg nach New York erzählt der Fast-Bohemien Icks einem zufälligen Sitznachbarn, wie er während seiner ersten Heimfahrt zu den Eltern nach zehn Jahren sein Leben Revue passieren läßt. Doch das stumme Gegenüber ist nur das erweiterte, einsame Icks-Ich. Mit diesem minimalistischen Kniff und ein paar eingebauten Regieanweisungen (»Lacht wieder laut«), die er sich von seinem Möchtegern-Regisseur Icks abgeschaut hat, hat Bönt eine schwierige Erzählhaltung aufgespalten. Mit dem doppelten Hohlraum von Flugzeug und Spalt-Ich gewinnt die sehr nah am schweren Erdenschicksal des Autors entlanggeschneiderte Geschichte eine fiktive Leichtigkeit. Das endlose Selbstgespräch, nur von ein paar Whiskeys und Zigaretten unterbrochen, intoniert das Motiv Abschied von den Eltern, Abschied von der Kindheit und die Abrechnung mit der Provinz, mit der Schriftstellerbiographien meist beginnen (müssen). Sukzessive, immer wieder abschweifend, tastet sich Icks an diese Wiederbegegnung heran. Ein Höhepunkt, der dann so schnell zusammenfällt wie ein Soufflee durch einen kühlen Luftzug. Was macht der Heimkehrer ins Kinderland? Die Eltern verlegen begrüßen, sprachlos auf der grünen Sitzgarnitur sitzen, dünnen Kaffee trinken, es nicht mehr aushalten und nach wenigen Stunden so schnell wie möglich flüchten. Bönt gelingt es, eine keineswegs neue Erfahrung peinigend gut zu beschrieben. Genauso wie die Erinnerungen, die ihn einholen wie ein schlechter Geruch, ihn anspringen wie ein »dickes, bedrücktes Tier«, als er auf dem Bahnhofsvorplatz der Dr.Oetker-Stadt aussteigt und die Straßenecken wiedersieht, an denen er früher tausendfach vorbeigelaufen ist.

Adenauers Stimme, Jimi Hendrix' Gesang, die Skulptur vor der umstrittenen Kunsthalle der Stadt - das sind nur Versatzstücke. Mehr als ein Zeit- ist Bönts Roman ein Seelenbild. Seelenbild der Generation Dazwischen. Geboren in den 60ern sind sie weder '68'er noch '89'er. Die Eltern keine alten Nazis, sondern die tüchtig-bewußtlose Nachkriegsgeneration, die Existenzen wie Häuser aufbaut. Seelenbild der Generation Ungefähr: einer vom geistigen Vakuum und der emotionalen Leere des westlichen Nachkriegsdeutschlands so vollständig narkotisierten Generation, daß sie kaum weiß, daß sie überhaupt existiert. Eine Generation ohne Selbstbewußtsein und Ziele. Nie weiß sie etwas genau. Von Kindheit an hatte der langsam, umständlich und in tausend Assoziationen erzählende Icks Schwierigkeiten, »einen klaren Gedanken zu fassen«. Ständig hatte er das Gefühl, neben sich zu stehen. Noch in Berlin, wo er nun endlich tun kann, wonach ihm der Sinn steht, wo er ein Stipendium zu ergattern und am Theater Fuß zu fassen versucht, beschleicht ihn das Gefühl, daß er sein Leben niemals auf die Reihe kriegen wird. Bönt melodramatisiert die Tristesse. Das traurige Grundgefühl der Provinz hat er mit in die Metropole geschleppt, wo er immer noch ständig mit »Regen im Herzen« herumläuft. Doch die »gesichtslosen Fassaden«, die er im Nachkriegswestdeutschland der »vollkommen hergestellten Hoffnungslosigkeit« ausmacht, sind auch die Fassaden einer historischen Bewußtlosigkeit. Obwohl er in der Schule einen Leistungskurs Geschichte belegt hatte, weiß er »nichts über diese Stadt, in der ich wahrscheinlich ein Drittel meines Lebens verbracht habe, meine Jugend«. Auch Auschwitz ist für ihn ein weißer Fleck. Er muß auf der Landkarte nachschauen, wo es liegt. Einmal, als er durch Polen reist, fährt er daran vorbei, ohne es zu merken. »Ich kann mich an nichts erinnern«, mit einem Satz, den man eigentlich nur von erinnerungsresistenten Politikern in Untersuchungsausschüßen und von Mitläufern kennt, faßt er seine Biographie zusammen, an der exemplarisch ist, daß sie nie begonnen hat, sondern immer erst noch kommen sollte.

Variante in Grau - Bönt fehlt die zynische Ironie, der absurde Bild- und Situationswitz der gutgelaunten Sozialabsteiger aus Coplands Generation X. Lapidar stellt Icks an einer Stelle seine »reichlich mittelmäßige Witzigkeit« fest. Der verspielte, kleinschreibende Trash-Literat vom Prenzlauer Berg Bönt hat die Umgangssprache in seinem Debüt in geradezu puristische Formstrenge gezwungen. Bönt stilisiert seinen Weg in die Berliner Szene - eine zur Zeit schwer grassierende Künstlermeise. Diese Selbsterschaffung des Bohemian nervt gelegentlich. Und doch ist sein Buch neben einer ungemein intensiven Selbsterforschung der Versuch der Selbsterschaffung einer des illusionierten, zuspätgekommenen, namenlosen Generation zwischen allen Stühlen. Hier hat sie eine eigene Sprache gewonnen. Aber keine Zukunft. Nach der Ankunft im Mekka der Boheme, New York, verschwindet Icks auf rätselsame Weise.

Bönts Mahlstrom bahnt sich zwar oft sehr schwermütig und scheinbar unkonzentriert seinen Weg. Kein Wunder, der verspätete Künstler wird älter, kriegt graue Haare und füllige Hüften. Doch von allzuviel narzistischer Nabelschau und Lamento trennen ihn sein Reflexionsvermögen, die illusionslose Lakonie und die Rücksichtslosigkeit, mit der er seinen haßerfüllten Charakter freilegt. Wer sich mit so nachhaltigem Grau, so zäh kreisender Erzählverzögerung, Abschweifungen, Vor- und Rückblenden gegen den aufgesetzten Frohsinn und die öde Linearität der Vergnügungsliteratur der neuen deutschen Lesbarkeit stellt, hat Mut und Eigensinn. Man soll Debütanten nicht mit großen Hoffnungen und Leitartikeln auf Buchmessenbeilagen überfordern. Doch Bönts Roman ist ein gelungenes Beispiel, wie man aus der albernen Dichotomie zwischen der Literatur der großen Gefühle und der gut konstruierten Unterhaltung herauskommen kann, mit der so ein paar Verleger die junge deutsche Literatur aus ihrer ewigen Krise herausmenscheln wollen. Auf seinen Roman Gold im nächsten Jahr darf man gespannt sein.

Ralf Bönt: Icks. Roman. Piper-Verlag, München 1999, 170 S., 29, 80 DM

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