Seit den siebziger Jahren gibt es in deutschen Baumärkten eine Substanz, die Heimwerkerherzen höher schlagen lässt. Molto Fill, so heißt das preiswerte Zaubermittel, ist eine Mischung aus Gips und Alleskleber. Mit ihm kann man vieles machen. Es ist Tiefenfüller und Flächenglätter, Fugendichter und Blitzzement. Nach dem Einsatz der weißen Paste erstrahlt das alte Heim in neuem Glanz.
Ungefähr so wie diese weiße Substanz muss man sich das Verständnis von Kultur vorstellen, das die Sozialdemokraten in einem "Leitantrag" für ihren Bundesparteitag Ende Oktober 2007 geschrieben haben. Nicht nur wegen der Molto Fill-haften Sprache, in der das 21 DIN A4-Seiten starke Papier daher kommt. Wenn Kultur die "Bindekraft von Gesellschaft, zivilisatorische Basis und Grundlage für die Verständigung" ist, klingt es ebenso nach Molto Fill wie in dem Satz, dass Kultur "Orientierung, Heimat und Identität" schafft. Kultur ist der Kitt, der alles zusammenhält. Man kann fast jedes Problemloch damit füllen. Hinterher fühlt man sich noch in der schäbigsten Hütte zu Hause.
Die sozialistische Kulturtheorie in der SPD kann auf beachtliche Erfolge zurückblicken. Es lohnt sich, die Diskussion immer wieder neu anzustoßen. Noch 1876 warnte Franz Mehring davor, "die Bedeutung der Kunst für den Emanzipationskampf zu überschätzen" und Clara Zetkin geißelte die bürgerliche Kunst und Kultur als "Afterkunst". Im Papier des Jahres 2007 ringt sich die SPD das bemerkenswerte Bekenntnis ab: "Kultur ist die elementare Basis von Demokratie". Der cultural turn erreicht die SPD: Spätestens mit dieser Formulierung wird die Wende von der einst proletarischen zur postmateriellen Formation signifikant. Das ist in den rußreien Zeiten immaterieller Arbeit nur konsequent. Ganz zur digitalen Bohème hat sie dennoch nicht aufgeschlossen. Sonst würde sie nicht vor dem "amoralischen Freiraum" warnen, der sich im Internet auftut. Aber das sind so die Gewohnheiten von guten alten Tanten. Immerhin findet sich schon mal ein Stichwort wie "imaginäre Darstellungsweisen".
Das Konvolut versucht wortreich Schritt zu halten mit der Zeit: von der Migrantenkultur über das UNESCO-Abkommen "Kulturelle Vielfalt", von der Erinnerungskultur bis zur "Kultur der Anerkennung" wird so ziemlich alles gestreift, was sich in den letzten 25 Jahren an kulturellen Problemzonen aufgetan hat. Der Wille zur flächendeckenden Modernität hat freilich dazu geführt, dass eine Formel in dem Papier geradezu peinlich gemieden wird, die einst den Grundstein für die sozialdemokratische Hegemonie der siebziger Jahre abgab. Mit Hilmar Hoffmanns legendärer Formel "Kultur für alle" hatte die SPD die Idee einer reinen Proletarierkunst über Bord geworfen und Kultur als Medium einer klassenübergreifenden Emanzipation propagiert. Wenn sie jetzt beklagt, dass trotz gestiegener Möglichkeiten längst noch nicht alle Menschen daran partizipierten, es immer noch "soziale Selektivität" gäbe, hätte es nahe gelegen, das Motto zu bekräftigen, statt es in die Soziologenformel von der "Teilhabegerechtigkeit" umzubenennen, die nichts anderes meint. Auch wenn die SPD nun Kunst und Kultur als Mittel entdeckt, das "Individualität und Vielfalt ermöglicht". Ganz sollte man die Massen nicht aus den Augen verlieren. Die Erfolge solcher Veranstaltungen wie der jüngsten "Langen Nacht der Museen" in Berlin zeigen, dass es eine ewige Aufgabe bleibt, möglichst vielen Menschen die Aneignung des kulturellen Erbes zu ermöglichen. Und statt allgemeiner Floskeln wie der von der "Pflichtaufgabe" und dem "Staatsziel Kultur" hätte man gerne mal eine konkrete Forderung gehört, wie dies in Zeiten der leidigen Eventkultur bewerkstelligen wäre - einen Nulltarif für Museen und Bibliotheken etwa.
Es ist vielleicht das Verdienstvollste des Papiers, dass es den Widerspruch zwischen Theorie und Praxis sozialdemokratischer Kulturpolitik für einen medienträchtigen Augenblick auf den Punkt bringt. Es schwankt zwischen inbrünstigen Bekenntnissen zur Autonomie der Kunst und ihrer Instrumentalisierung, zwischen Kunst als "Eigenwert" und Kunst als Hefe einer "postindustriellen Industriepolitik". Beim Zauberwort "Creative Industries" kommt auch bei der SPD Goldgräberstimmung auf. Vollends deutlich wird der Widerspruch, wenn man das Papier an der real existierenden Kulturpolitik der Partei misst. Trotz des von Gerhard Schröder erfundenen Kulturstaatsministers im Bund lässt auch die SPD die kostbare Substanz, die in dem Papier beschworen wird, in den meisten Ländern, wo sie noch mitmischen darf, durch nachgeordnete Behörden verwalten. Da dient Kultur als eine Art Molto Fill der Staatskanzleien.
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