Goetschs Gourrama

Literatur Ambitioniert, anspruchsvoll und überaus spannend. "Herz aus Sand" von Daniel Goetsch ist ein politischer Roman - und eine Parabel auf die Angstgesellschaft im Lager

Afrika – das muss man heute wohl mit „ohne Hoffnung“ übersetzen. Warum riskieren sonst Tausende Afrikaner jedes Jahr ihr Leben, um es zu verlassen? Die wenigsten kommen freilich an in Europa. In den letzten zwanzig Jahren sind wahrscheinlich eine halbe Million von ihnen bei dem Versuch im Mittelmeer ertrunken, den Kontinent der Hoffnung zu erreichen.

Auf den ersten Blick liest sich Daniel ­Goetschs neues Werk Herz aus Sand wie ein Roman über den verlorenen Kontinent. Frank, den Helden seines Werks, hat es in eine UN-Station in der Westsahara verschlagen. Hier wartet eine Gruppe internationaler Beobachter wie Godot auf ein Referendum, das dann doch nicht kommt. Bei ihm sollen die Ureinwohner dieser Gegend über ihre Zukunft entscheiden. Soldaten sind hier stationiert, es gibt ein Flüchtlingslager. Und in dieser Station gibt es eine Schule, wo junge Afrikaner zu „perfekten Flüchtlingen“ ausgebildet werden.

Die Nerven liegen blank

Trotz der politischen Thematik ist Herz aus Sand aber mehr als das, was man landläufig „politischer Roman“ nennt. Er spielt zwar in dem gefährlichen Afrika jenseits der Touristenpfade, ist aber auch kein Afrika- oder Fremdenlegionsroman. Auch wenn die Szenerie an ein berühmtes Vorbild erinnert: den Roman Gourrama von Daniel Goetschs großem Schweizer Schriftstellerkollegen Friedrich Glauser.

Auch in Goetschs Camp belauern sich alle gegenseitig wie in Gourrama. In Herz aus Sand inszeniert er die klassische huis-clos-Situation wie in Jean-Paul Sartres gleichnamigen Stück: Die Insassen dieser geschlossenen Gesellschaft können weder voneinander lassen noch voreinander fliehen. Unter dem Druck der Verhältnisse liegen ihre Nerven mehr als einmal blank.

Und zwar nicht nur, weil hier alle ein Medikament namens „Subutex“ nehmen oder wenigstens damit handeln. Hier spinnt der 1968 in Zürich geborene Goetsch ein für ihn charakteristisches Motiv fort. Schon in seinem zweiten Roman X (2004) entfaltet er das Panorama einer Angstgesellschaft, in der alle unter Drogen stehen.

Das Politische in Herz aus Sand wird auf einer höheren Ebene verhandelt. Das Lager ist zwar ein sehr reales Lager, das sich Goetsch von einer UNO-Mission abgeschaut hat, die es tatsächlich einmal gab. Es ist aber auch ein Zeichen für jenes globale Migrationsregime, das überall auf der Welt zum Alltag geworden ist. Man muss es geradezu als Sinnbild für den zivilisatorischen Grundzustand sehen, für den der italienische Philosoph Giorgio Agamben in seinem Buch Homo Sacer exakt die Schlüsselvokablen nennt, die auch in Goetschs Buch auftauchen: Ausnahmezustand, Lager, Flüchtling.

Goetsch legt die Spur vielleicht etwas deutlich. Frank, der Protagonist des ­Romans, ist ein junger, unscheinbarer Schweizer Jurist, der über den „Begriff des Notstands“ im Verfassungsrecht und den Nazi-Juristen Carl Schmitt gearbeitet hat, auf den sich auch Agamben bezieht. Er ist aus Enttäuschung über die in die Brüche gegangene Liebe zu seiner Jugendfreundin Alma in das Lager in Nordafrika gegangen und erlebt dort nun genau jenen Ausnahmezustand, über den er so lange vor sich hin promoviert hat.

Das „nackte Leben“, das in dem Untertitel von Agambens Buch auftaucht, kann man in einer Reflexion Franks aufspüren: „Damals erschien mir unser Lager wie … eine Insel, die die Essenz aller Verhältnisse enthält, wenn nach Jahren der Unterdrückung und Auflehnung und Vertuschung nur eins zurückbleibt: das nackte Dasein.“

Diese schleichende Entzivilisierung erlebt Frank nicht nur als philosophische Erkenntnis, sondern am eigenen Leib. Als er eines Abends beim Spaziergang im Lager einer der Leilas begegnet – Frauen, die erst als Helferinnen in das Lager kamen, inzwischen den UNO-Beobachtern und Soldaten aber als sexuelles Freiwild dienen – fährt es ihm unwillkürlich durch den Kopf: „Wir sehen uns wie Tiere an.“

Goetschs Roman hat einen konkreten Ort, funktioniert aber wie eine zeitlose Parabel. In dem Lager trifft Frank nämlich auf den Berliner Architekten Duncker, der „das perfekte Flüchtlingsdorf“ bauen und den obdachlosen Afrikanern eine Heimat geben will. An dem Elend vor Ort will er die Probe auf das Exempel der Humanität machen. Duncker mit seiner Vision ist das große Vorbild aller Beobachter im Camp.

Doch schließlich findet Frank heraus, dass auch der Mann mit dem humanitären „Masterplan“ zu einem ganz gewöhnlichen Kriminellen und dessen perfektes Flüchtlingsdorf zu einem perfekten Gefangenenlager geworden ist, das mit seinen Baracken einem KZ zum Verwechseln ähnlich sieht. Aus der Heimat ist ein Gefängnis geworden.

Das Lager im Roman steht also für die Verwaltung des Elends, zu der die politische Utopie heute heruntergekommen ist. Zugleich ist es eine Metapher dafür, wie sich politische Ideale in ihr Gegenteil verwandeln (können).

Wie in allen seinen Romanen hat Goetsch politisch-philosophische Grundsatzfragen und individuelle Sinnfragen geschickt ineinander verwoben, das Metaphorische steht bei ihm immer neben dem Konkreten. Frank ist der konkrete Frank, der antriebsarme Durchschnittsjurist mit einer deprimierenden Geschichte, er ist aber auch der prototypische „Beobachter“. Einerseits erschöpft sich seine Aufgabe, wie er notiert, „im Betrachten der Oberfläche“. Womit man auch schon mal zur Wahrheit durchdringt. Richtig befriedigend ist der Beobachterstatus aber nicht: „Du bist nett, aber schwach, du tust nichts, also auch kein leid, bist nicht böse, auch nicht gut, guckst nur, schaust zu, ein richtiger Beobachter“, bringt ausgerechnet eine der Leilas einmal spöttisch Franks Dilemma auf den Punkt.

An Stellen wie dieser reflektiert Goetsch nicht nur en passant das Dilemma des Schriftstellers, sondern auch das des zeitgenössischen Menschen, der vor der Frage steht: zusehen oder eingreifen? Aber wie?

Der Duft der Jugend

Doch vor der Antwort auf diese Frage hat Goetsch die Selbstprüfung des Protagonisten gesetzt. Das Medium dazu ist bei ihm die Erinnerung. So wie in seinem Roman Ben Kader (Freitag 45/2006) der Protagonist Dan die Geschichte seines Vaters als Kollaborateur des französischen Kolonialregimes in Algerien entfaltet, führt der Weg auch in Herz aus Sand über die Vergangenheit.

In Rückblenden reflektiert ein Erzähler Franks scheiternde Beziehung zu seiner Freundin Alma vom „opiösen Duft der Jugend“ bis zu Almas plötzlichem Aufstieg als Beraterin des jungen Schweizer Nachwuchspolitikers Stettler in die Welt der Politik. Bis diese mnemotechnische Suchbewegung die Erinnerung an jene mysteriöse Begegnung nach einem nächtlichen Unfall freilegt, nach der Franks Weg schließlich in das Lager am Rande der Wüste mündet.

Man kann Herz aus Sand als Parabel auf die Perversion der Utopie lesen oder als Warnung vor dem Faschismus, den die Angst immer wieder neu gebiert. Eine Angst, die dem Philosophen Carl Schmitt, den Politiker Stettler oder dem Architekten Duncker gleichermaßen im Nacken sitzt.

Man kann diesen ambitionierten, anspruchsvoll konstruierten und überaus spannenden Roman aber auch einfach als traurige Liebesgeschichte lesen. Der Titel klingt vielleicht etwas kitschig. Aber schließlich löst sich die Utopie der Liebe genauso auf wie das Herz aus Sand, das man im Urlaub in den Sand zeichnet. Am Strand, in Afrika, zum Beispiel.

Herz aus Sand Daniel Goetsch, Roman, Bilgerverlag, Zürich 2009, 288 S., 24 , zu bestellen bei a href="http://www.buecher.de/shop/Schweiz/Herz-aus-Sand/Goetsch-Daniel/products_products/detail/prod_id/26093260/">buecher.de

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