Die Zone lebt. Von der Sonnenallee bis Goodbye Lenin feiert sie seit einiger Zeit fröhliche Auferstehung. Wenn schon nicht als Gesellschafts- dann zumindest als Zeichensystem. Die Jugendweihe hat schon länger überlebt, nun werden auch die Weltfestspiele der Jugend wieder aus dem Fundus geholt. Die neue Freude an DDR-Objekten und Zonenritualen ist zwiespältig: Auf der einen Seite meldet sich da ein abgelegtes Geschichtsbewusstsein zurück. Und mit spielerischem Spott setzt man sich über die Tabuisierung einer verfemten Zwischenzeit und ihrer Erkennungszeichen und Codes hinweg. Trotzdem befördert diese retrospektive Lust meist nur enthistorisierte Abziehbildchen in den fetischgestützten Konsumkreislauf kapitalistischer Prägung. So kann man die unterschwellige Macht der Alternative gut integrieren, ohne dass sie wirklich diese Wirkung entfaltet.
Wenn man eines der Kunst in der DDR echt nicht wünschen möchte, dann ein Überleben als Lebensstil-Inventar wie das, das Yuppies West zu schwindeln machenden Preisen am Hackeschen Markt zu Berlin erstehen und sich in ihre frisch renovierten Lofts am Prenzlauer Berg oder Friedrichshain hängen. Die Serie von Lenin-Köpfen, mit der die Berliner Nationalgalerie für ihre große Retrospektive Kunst in der DDR wirbt, sieht haarscharf nach der symbolischen Anverwandlung aus, mit der die sozialistische Massenkultur gerade recyclet wird. Doch eigentlich hat der Dresdner Künstler Willy Wolff mit seiner Pop-Art-Collage zum 100. Geburtstag Wladimir Iljitsch Lenins von 1970 die Konformität der offiziellen Klischeeproduktion Ost mit "100 Nullen" auf die Schippe nehmen wollen.
Die aufwändige Schau in Mies van der Rohes Tempel der Moderne nun ist aber alles andere als ein Tribut an den Zeitgeist. Weder wird hier in billiger Ostalgie gemacht, noch gehobene Soz-Art verhökert, es gibt keine Spreewaldgurken in Öl und keine Hammer-und Sichel-Collagen. Die Ausstellung gleicht der neuen DDR-Begeisterung höchstens darin, wie emphatisch und konsequent die Kuratoren Eugen Blume und Roland März von der Nationalgalerie auf die wahre, die schöne, die gute DDR setzen. In zwanzig Abteilungen werden die Randfiguren und Eremiten, die Unterdrückten und die Eigenbrötler rehabilitiert. Und es wird vom Pathos der "Stunde Null" über die "Peinture Elbflorenz", die "Leipziger Schule" bis zur Filmkunst gleich eine eigene Chronologie unabhängiger Kunstentwicklung mitgeliefert. Dagegen fehlen in dieser Schau der "guten" Kunst die Traktoristinnen und Erntehelfer, der ganze Zierrat "schaffensfroher" Brigadisten und sonstiger aufrechter Zuarbeiter der verratenen Utopie. Trotzdem geht der Vorwurf, hier werde ein System des Agitprop durch Weglassung des Unliebsamen rein gewaschen, ins Leere. Denn die DDR-Kunst war nie nur das eine oder das andere.
Figuration-Abstraktion-Konstruktion. Im Foyer der Nationalgalerie hängen demonstrativ ein Ölgemälde mit den Strichfiguren A. R. Pencks, Werner Tübkes Bild Weihnachtsnacht 1524 und Hermann Glöckners Achtfach reflektierter Strahl - Emigrant, Staatskünstler und Randfigur - so einträchtig nebeneinander, wie es in der DDR selbst gewiss nicht möglich gewesen wäre. Das sieht provokativ aus. Doch hätte es einer weiteren Ausstellung bedurft, um zu beweisen, dass die DDR-Kunst nicht bloß Indoktrinationskunst war, dass sie vielmehr eine erstaunliche Vielfalt der Stile, Haltungen und Richtungen aufwies? Wohl kaum. Wer Augen hatte zu sehen, dem war schon in den siebziger Jahren klar, dass ausgerechnet die Kunst im Sozialismus den Grundstein eines "Ich" aus dem bröckelnden Kollektivbau Ost gerettet hatte, das der Westen längst aufgegeben hatte. Gerhard Altenbourgs filigrane Erkundungen im "Ich-Gestein" sind nach wie vor das Musterbeispiel dafür.
Hätte es einer weiteren Ausstellung bedurft, um zu beweisen, dass der sozialistische Realismus von Anfang an zum Scheitern verurteilt war und immer eine unerreichbare Fiktion geblieben ist? Wohl kaum. Jedem Kunstkenner fiel ins Auge, dass Willi Sitte in seinen berüchtigten Bildern des Kombinats Leuna von 1965 bis 1969, ja noch in seiner Lenin-Hommage von 1969 mit seinen gesplitterten Prismen Picasso und dem Futurismus näher stand als Walter Ulbricht, der 1951 vor der Volkskammer die Ästhetik des Kleinbürgertums unvergessen einfältig auf den Punkt gebracht hatte: "Wir wollen in unseren Kunstschulen keine abstrakten Bilder mehr sehen. Wir brauchen weder die Bilder von Mondlandschaften noch von faulen Fischen." Und wann wurde die geschönte Emphase des Aufbausozialismus "realistischer", also mit ihren eigenen Mitteln widerlegt als mit den düsteren Alltagsinterieurs der schwarzen Berliner Melancholie von 1956-1958 (!), mit den "Zeitreise"-Fotografien Christian Borcherts, der die Sackgassen des DDR-Alltags aufsuchte: Trinkerecken, Rentnerfeste?
Hätte es auch einer weiteren Ausstellung bedurft, um zu beweisen, dass die Kunst in der DDR die Kunst der permanenten Selbstbehauptung gegen den Oktroi war? 1968 wurde Werner Tübke aus dem Staatsdienst als Hochschullehrer entlassen, 1978 wurde Jürgen Schieferdeckers Triptychon Das Lächeln der Mona Lisa oder Kann Hoffnung scheitern im Ost-Berliner Alten Museum abgehängt, weil sich die Obrigkeit nicht "die Klassiker" besudeln lassen wollte. Die Liste ließe sich verlängern ad infinitum.
Alle diese Fakten sind nicht neu. Sie wurden nur bisher übergangen, ausgeblendet, vorsichtig hinter politischen Prämissen versteckt, wie in der Ausstellung Auftrag Kunst 1949-1990 1995 im Deutschen Historischen Museum in Berlin oder im Systemvergleich entschärft wie in deutschlandbilder - Kunst aus einem geteilten Land 1997 bei den Berliner Festwochen. Gipfel der Indoktrinationskunst West war jedoch der skandalöse Versuch in der Weimarer Ausstellung Aufstieg und Fall der Moderne von 1999, sowohl die Kunst aus der DDR als auch die Kunst des Nationalsozialismus unter ein und demselben Schlussstrich zu entsorgen. Insofern kommt die Berliner Ausstellung keineswegs zu spät, wie Kritiker jetzt meinen. Diese herausgehobene Rehabilitierung der autonomen Kunst ist eine notwendige, nachträgliche Entschuldigung. Aber sie ist noch viel mehr: Denn sie zeigt das ganze Panorama des (ununterdrückbaren) ästhetischen Eigensinns, den viele Künstler in der DDR sozusagen unter der Hand, unter Druck entwickelten. Joseph Beuys´ ironischer Spruch: "Es gibt Leute, die sind nur in der DDR gut" verliert vor dieser Übersicht seine Berechtigung. Die Kunst in der DDR hatte europäisches, ja internationales Niveau.
Mit dem Verzicht auf die Schlacken der Propagandakunst und auf das Gros der Kunst in der Grauzone zwischen staatlichem Auftrag und selbstständigem Formwillen wird aber der etwas schiefe Eindruck vermittelt, dass lebenslange Außenseiter wie Hermann Glöckner, der in Dresden 30 Jahre seine Papierfaltungen, geometrischen Formerkundungen, die "mehr als bloß Geometrie" sein wollten, unter Ausschluss fast jeglicher Öffentlichkeit vornahm, im Mittelpunkt der Kunstproduktion der DDR standen. Hier liegt der neuralgische Punkt der Ausstellung, denn die Autonomen wirken seltsam unberührt von den Vorgaben der SED-Kulturpolitik. Der zähe Kleinkrieg, in dem sie damit kämpften, kann sich der Besucher höchstens im Katalog erschließen. Und so wie es bei allen bisherigen Aufarbeitungsversuchen ein Fehler war, "Kunst in der DDR" auf den Agitprop zu reduzieren und pauschal selbst Künstler wie den Neo-Veristen Volker Stelzmann unter dieses Schimpfwort zu subsumieren, so ist es ein Fehler, so zu tun, als ob es den Agitprop nicht gegeben hätte.
Wenn etwas "Kunst in der DDR" auszeichnet, dann das vielfach verschränkte Nebeneinander von Staats-, Auftrags- und unabhängiger Kunst. Niemand verlangt, dass beim Stichwort "Kunst in der DDR" nur die ästhetischen Pappkameraden des Bündnisses von Stirn und Faust aus dem Depot geholt werden. Über dieses Stereotyp haben sich Blume und März souverän hinweg gesetzt. Doch die künstlerische Lebensleistung und unkorrumpierte Autonomie eines Künstlers wie des Malers und Heizers Albert Ebert, der seinen ganz privaten, naiven Realismus pflegte und in seinem Bild Heizers Geburtstagsständchen von 1956 (!) das Gesicht von Walter Ulbricht in einen Kohleofen verbannte, wäre noch strahlender zutage getreten, wenn es einen Raum mit markanten Beispielen offiziell geförderter Kunst gegeben hätte. So kann man die Werke, die das Leben der arbeitenden Menschen zur Freude von Staat und Partei "unverfälscht" darstellten, nur in einem Seitenraum vorbeihuschen sehen, der auch nicht mehr zur Ausstellung im engeren Sinne gehört, nämlich in einem Film über die Dresdner Kunstausstellungen. Hier wird ein Großteil dieser Kunstproduktion ins Virtuelle verbannt, als ob man sie durch die Verweigerung der materialen Präsenz vergessen machen wollte.
Trotzdem liegt der große Wert der Schau darin, die Blickverengung West aufgebrochen zu haben, die nach den Streits der letzten Jahre Kunst aus der DDR in einer breiteren Öffentlichkeit immer auf die berühmte "Viererbande" Sitte, Tübke, Heisig und Mattheuer reduziert hat. Insbesondere in der Anfangsphase der DDR-Kunst unmittelbar nach Kriegsende aber auch im Pendant zum westdeutschen "Informel" sind Künstler wie Edmund Kesting mit seinen biorhythmisch inspirierten oder Herbert Kunze mit seinen gestischen Kompositionen zu entdecken, die das verkürzte Bild der "Kunst in der DDR" weiten. Die Spanne von 1949 bis 1979 belegt: Die Abstraktion war zu keiner Zeit getilgt in dieser Kunst. Sie hatte ihre Wurzeln in der europäischen Moderne von Anbeginn nie aufgegeben, sie verteidigt und entwickelt.
Peter-Klaus Schuster, der Generaldirektor der Staatlichen Museen zu Berlin, sprach zum Auftakt der Ausstellung vom "Beginn eines Kanons" der DDR-Kunst. Man hört das Wort mit zwiespältigen Gefühlen. Einerseits attestiert er damit eine, nach den Jahren der Diffamierungen und Schmähausstellungen überfällige Gleichberechtigung. Dass Schuster ohne öffentlichen Aufschrei angesichts der "Kunst in der DDR" fragen kann, wie wir uns in Deutschland darin sehen, ist ein Indiz dafür, dass die einst verfeindeten Brüder nach gut 15 Jahren zänkischer Abrechnung das bislang verfemte Gegenbild als ein Stück von eigenem Wert und als Teil des eigenen Selbst anzunehmen beginnen. Der Besucherandrang spricht für sich. Andererseits bleibt bei Schusters Wort der Beigeschmack, dass diese Nobilitierung der Kunst in der DDR immer noch erst aus dem Munde einer Kunstautorität West unwidersprochene Gültigkeit erlangt. Kanon klingt auch immer nach Ruhigstellung im Museum oder nach einer Bildvariante des Pappkartons so genannter Klassiker, mit denen Marcel Reich-Ranicki Schulkinder "für das Leben" quälen will. Doch wir trösten uns mit dem alten Erfahrungsgrundsatz, dass die Kunst stärker ist als alle politischen, pädagogischen oder sonstigen Zwangsjacken, die man über sie werfen will: Sie lebt.
Kunst in der DDR. Neue Nationalgalerie. Berlin-Tiergarten. Noch bis zum 26. Oktober 2003. Katalog 22,- EUR
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