Gottlos

Berliner Abende Kolumne

Frankfurt verlassen. Seit ich klar denken kann, wollte ich weg aus dieser Stadt. Das alte Gefühl des Überdrusses steigt wieder auf, als der Intercity über den Main rollt. Zwischen den Hochhäusern am Fluss liegen der Eiserne Steg und der Dom wie Historienspielzeug. Irgendwo dahinter muss das Schauspiel stehen, wo ich als Statist jobbte. Ich kannte jeden Stein in dieser Stadt. Leben, dachte ich als Abiturient immer, schien mir nur möglich, wenn ich hier endlich, endlich verschwände.

Lichtjahre muss das her sein. Längst habe ich die Stadt meiner Kindheit hinter mir gelassen. Ihre Skyline gilt mir als urbanistisches Verbrechen schlechthin. Zur ungeliebten Buchmesse muss ich mich jedes Jahr überwinden. Doch warum überfällt mich auf einmal Wehmut, wenn ich in den Kopfbahnhof einfahre? Ein seltsames Gefühl von Berührtheit steigt auf, als ob ich zu meinen Ursprüngen zurückkehre, die Stadt mir noch ein nicht gelüftetes Geheimnis, eine Überraschung irgendetwas schuldig sei. In meiner Erinnerung steht noch immer mein Vater am Gleisende, um mich abzuholen.

Als ich aus dem Zug steige, wartet niemand und nichts ist wie früher. Die Menschen hasten durch die Haupthalle wie im Großflughafen. Nur wer sie kennt, sucht hinter den futuristischen Verkaufspavillons die Orte der Kindheit: Blumen Hanisch, wo sich frühmorgens die Schulklassen zum Wandertag trafen, die kleine Bücherei mit amerikanischen Taschenbüchern. Doch trotz der Verwandlung in das coole Kugellager der Globalisierung scheint sich in der Stadt wenig geändert zu haben. In der U-Bahn überkommt mich die gleiche bleierne Müdigkeit, gegen die ich mittags nach der Schule immer gekämpft hatte - vorbei an der Stadtteilbibliothek, der kleinen Gärtnerei, dem Schuhgeschäft. Das Frankfurter Dichterviertel, wo die Familie wartet, ist ein Areal gutbürgerlicher Arriviertheit. Alles atmet hier Ruhe, Gemessenheit und diskreten Wohlstand. Ein Mann kehrt das Herbstlaub zwischen den Limousinen. Die Zeit scheint still zu stehen. Willkommen in einem Westen, den es eigentlich nicht mehr gibt!

Für die Familie bequemt sich ein gottloser Single ja zu Manchem. Sogar morgens früh um fünf zu einer Taufe. In Berlin ist Familie ein Spiel mit bizarren Verbindungen, ein Crossover der Geschlechter und Generationen, ein Netz aus Zufallsbekanntschaften und Longtime-Companions, das man täglich neu knüpft. Vier Stunden später kreist man in einem Paralleluniversum mit fester Umlaufbahn. Onkel Ingo! "Kennst du alle"? frage ich mit Verschwörermiene meine ortskundige Lieblingsnichte, die mir erklären muss, wie die zahlreichen Geschwister, Omas und Cousins, die mir auf der Terrasse zuprosten, zusammen hängen. Hallo! Wie geht´s? Meine drei Neffen lassen die Legobausteine sinken, hören auf, die Couch zu betrommeln, schauen mich skeptisch an und überlegen, ob sie mich auch wirklich kennen. Schließlich überzeugt sie die große Tüte mit Geschenken.

Das Ritual ist ungewohnt. Wann war ich das letzte Mal in der Kirche? Aber so kann ich mal einen Blick hinter die Mauern der Französisch Reformierten Gemeinde werfen, an der ich zwanzig Jahre mit Verachtung vorbeigefahren bin. Ich staune nicht schlecht über das schlichte Gotteshaus: Ein Tisch mit einer Kerze steht in einem einfachen Saal, darauf ein Laib Brot und ein Strauß Herbstblumen. Alles redet durcheinander. Den Gottesdienst befeuert eine Gruppe gospelsingender Farbiger in bunten Phantasiegewändern, meine Neffen freudestrahlend mittendrin. Die Kollekte geht an einen Mann aus Afrika. "Zu Hause wurde ich behandelt wie ein Müllsack und hier wurde ich behandelt wie ein König" bedankt er sich mit Tränen in den Augen. Der Gesang schwillt. Die Gemeinde hat ihn eingeladen, damit er seine Elephantiasis behandeln lassen kann. Plötzlich schäme ich mich für das ganze Geschwätz über Solidarität, Multikultur und Globalisierung mit menschlichem Antlitz, das unsereins so drauf hat - diese kleine Gemeinde am Rande eines verschlafenen Frankfurter Bürgerviertels praktiziert sie, ohne groß damit zu prahlen.

Abends, als mich mein Bruder zum Bahnhof fährt, kommt mir die Stadt so leblos vor. Der Platz der Republik ist am Vorabend des Tags der deutschen Einheit wie ausgestorben. Hier ist alles so indoor, als ich vier Stunden später am Berliner Ostbahnhof aussteige, alles extrem outdoor. Neben mir hält sich ein besoffener Skin an der Bushaltestelle fest und schreit etwas in die Mitternacht. Zwei Ledertrinen streben ins Nachtleben hinter dem Bahnhof. Gegenüber lässt eine zerlumpte Familie ohne allzu festen Wohnsitz die Flaschen kreisen. Nur die Lagerfeuer fehlen noch. Willkommen in der Hauptstadt der Gottlosen! Stadtluft macht frei, denke ich. Seit zehn Jahren bin ich in diesem Moloch. Ich könnte in keiner anderen Stadt mehr leben. Und doch fühle ich mich plötzlich vollkommen fremd in ihr.


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