Das Tor nach Osten. Glaubt man der interkulturellen Philosophie, dann öffnete Arthur Schopenhauer mit seiner Indienbegeisterung als erster diese geheimnisvolle Passage, von der alle reden, die aber noch keiner gesehen hat. Wie Goethe schwärmte der Pessimist für den Philosophie-Klassiker Upanishaden. Und was wäre das Flaggschiff der Moderne West, das Haus Suhrkamp, ohne seinen buddhistischen Säulenheiligen Hermann Hesse?
Dass die "indischen Weisheiten", die Schopenhauer sich unausweichlich über Europa verbreiten sah, als esoterische Modewellen von Poona bis Krishna hier ankommen würden, konnte der Philosoph nicht ahnen. Bei diesem Schrumpfbild von Indien war es nicht falsch, das Land nach 1986 zum zweiten Mal als Gastland zur Frankfurter Buchmesse kommenden Herbst einzuladen. Vor dessen Kultur müsste das Abendland vor Neid erblassen. Die Heimat von Arundhati Roy und Salman Rushdie kommuniziert in 24 offiziellen Sprachen und über 800 Dialekten. Doch so wie die indische Botschafterin vergangene Woche auf der Buchmesse in Leipzig vor mäßig interessiertem Publikum wie mit Engelszungen für ihre Weltkultur sang, gewann man den Eindruck, sie müsse ein kulturelles Abseits schönreden.
Übertriebene Hoffnungen, eine Kulturbarriere zu durchbrechen, sollten sich Indiens Buchhändler und Autoren nicht machen. Zwar wird auf jeder Buchmesse die kulturelle Grenzüberschreitung beschworen. Und nicht ohne strategischen Hintergedanken erhielt in diesem Jahr der 1968 in Sofia geborene Ilija Trojanow, der deutsch schreibt und in Südafrika lebt, den Preis der Leipziger Buchmesse für seinen viel gelobten Roman Der Weltensammler. In der fiktiven Biographie des britischen Abenteurers Richard Burton, der Ende des 19. Jahrhunderts arabische Gewänder anzog und in Indien zum Islam übertrat, zeigt Trojanow, wie man sich "das Fremde" mehr als touristisch anverwandeln kann.
Wie wenig aber noch der intensivste Kulturaustausch an den politischen Machtverhältnissen ändern kann, erfuhr jetzt Juri Andruchowytsch. In seinen von der Kritik und den Lesern begeistert aufgenommenen Büchern führt der ukrainische Autor Europa zurück zu seiner vergessenen Mitte in den Karpaten. 15 Monate lang las er unentwegt in ganz Europa, sprach auf Symposien. Und hatte schon geglaubt, sein Werben "für dieses verfluchte Land" sei nicht vergebens gewesen. Bis er ein Interview mit Günter Verheugen las. Die Feststimmung im Leipziger Gewandhaus sank auf den Gefrierpunkt, als ein zorniger Andruchowytsch seine Dankesrede zum - ebenfalls verliehenen - "Buchpreis für europäische Verständigung" nutzte, um in "bitterer Offenheit" zu geißeln, dass der Brüsseler Kommissar in 20 Jahren "alle europäischen Länder" als Mitglied in der EU sieht - mit Ausnahme der Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Die Helden der Orangenen Revolution hätten alle noch bejubelt. Nach Deutschland einreisen könnten sie nach der "Visa-Affäre" aber nur gegen einen Fingerabdruck - wie "Verbrecher und Nutten", klagte Andruchowytsch enttäuscht. So drastisch hatte in Leipzig noch niemand den Widerspruch zwischen Europagesülze und Europapolitik, zwischen interkulturellen Sonntagsreden und monokultureller Alltagspraxis auf den Punkt gebracht.
Kein Wunder, wenn sich östlich von Schengen eine Gegenbewegung formiert: "England ist nicht Europa" konstatierte der russische Autor Andrej Kurkow auf einem Podium sarkastisch, "sondern eine Insel, die Angst vor Ausländern hat". Auf einem Kontinent, der seine kulturelle Identität mit Einbürgerungstests und Leitkulturen befestigen will, würden interkulturelle Schwarmgeister wie Schopenhauer und Goethe heute vermutlich Schwierigkeiten bekommen. Dem verunsicherten Europa möchte man statt Festungsbau die Weisheit empfehlen, mit der der 73jährige Siebenbürger Sachse Eginald Schlattner in seiner Heimat mit Rumänen und Zigeunern auszukommen gelernt hat: "Geh auf den zu, den Du fürchtest".
Trotzdem ist es nicht falsch, dass Indien sich im Oktober in Frankfurt noch einmal präsentiert. Die Nuklearallianz, die die USA jetzt mit dem Subkontinent schmieden, sollte mit möglichst viel Kulturallianzen konterkariert werden. Buchmessen sind mitunter nervende Rituale. Hier wird um Geld, Verträge und Lizenzen gepokert. Und die alljährlichen Jubelmeldungen über ihre Zuwachsraten markieren nicht zwangsläufig einen Zugewinn an kulturellem Terrain. Doch Buchmessen vernetzen auch Menschen, Verlage und Ideen. So entscheiden sie mit über die Frage: Gehört die Zukunft dem kulturellen Dialog oder der militärischen Kollaboration?
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