Grenznutzen

FRANKFURTER BUCHMESSE Auf die Dialektik kommt es an

Wer bestimmt eigentlich, wer dazugehört? Beim Empfang des Münchener Luchterhand-Verlages vergangene Woche auf der Frankfurter Buchmesse war es Frau Führer. Die sortierte im Hessischen Hof die Wichtigen ins Kröpfchen, die Unwichtigen ins Töpfchen. "Kommen Sie mit zum Essen?" lockte sie den einen Pressevertreter zum Diner mit Lobo Antunes und Christa Wolf ins damasten eingedeckte Separee nebenan und vertröstete den anderen mit: "Ich würde Sie gerne mal wiedersehen" auf das nächste Pressegespräch. Man setze ein paar feine Unterschiede nach allen Regeln der Kunst. Fertig ist der Literaturbetrieb. Pierre Bourdieu lässt grüßen!

Die kleine Episode beleuchtet einen interessanten Widerspruch. Auf der Buchmesse wird gern ausgiebig die grenzüberschreitende Wirkung der Literatur gepriesen. Doch die unsichtbaren Hände, die dieser Entgrenzung entgegenarbeiten, übergeht man mit dem "feinen Schweigen", mit dem für den neuen Friedenspreisträger Fritz Stern das deutsche Bürgertum der Jahrhundertwende vor den großen Ausgrenzern Nationalismus und Antisemitismus kapitulierte. Jedes Handy eines Werbefuzzi auf den endlosen Laufbändern durch die Messehallen piepst lauter als die Hilferufe von "Reporter ohne Grenzen" oder des Pen zu den "Writers in Prison". Die Autoren aus dem ehemaligen Jugoslawien, die sich nach dem Vorbild der Gruppe 47 in der Gruppe 99 zusammengeschlossen haben, wollen eine grenzüberschreitende Kultur auf dem Balkan errichten. Doch der vielbewunderte Westen, Titel der ersten modernen ungarischen Literaturzeitschrift, hegt zehn Jahre nach der Grenzöffnung lieber sein Grenzbewusstsein. Hans Dietrich Genscher und Fritz Stern mussten sehr laut rufen, den Staaten Osteuropas, die die Eiserne Grenze kappten, die "völlige Zugehörigkeit zu Europa" zu geben.

Wahrscheinlich liegt es an der einwöchigen Monadenexistenz in einem dröhnenden Vakuum, dass Buchmessen, allen Klageliedern über die Grenzen des Wachstums und den Zweifeln an dem Grenznutzen dieses Massenhappenings zum Trotz, ein Terrain für Phantasien der Entgrenzung bleiben. Frankfurt 1999 entfesselte das überreichliche Selbstbewusstsein der diesjährigen Messestars Grass, Lafontaine und Reich-Ranicki sichtlich. Wenn Aufbau-Verleger Bernd Lunkewitz glänzende Augen kriegt, weil er Donna Cross' Trivialschmöker Die Päpstin eine Million Mal verkauft hat und mit seinem neuen Audioverlag nun auch die Grenzen zwischen Hören und Sehen überschreiten will, ist er der Schröder der Branche: im Zweireiher und mit gefärbten Haaren bläst er mit dicker Havanna fünf- bis sechsstellige Auflagenkringel in die schlechte Messeluft. Wenn es um sein schmachtscheckiges Programm geht, ist er der Lafontaine der Branche: Links mit Herz! Doch dass alles sich immer weiter ins Grenzenlose entfalten lassen könnte, ist nur ein naiver Kinderglaube. So sehr der neue Co-Chef des Rowohlt-Verlages, Peter Wilfert, mit grenzenlosem Marketing die Grenze zwischen U, wie Krüger, wo er herkommt, und E, wie Rowohlt, wo er hingeht, durchbrechen will, damit der defizitäre Traditionsverlag wieder richtig rotiert. Der Grenzensprengstoff Literatur kann seine geistige Detonationskraft offenbar am besten mit einer Preisgrenze entfalten. Das sieht inzwischen offenbar auch die EU-Kommission so. Es gibt also eine Dialektik von Grenzüberschreitung und Grenzziehung. Denn auch wenn das "neue Deutschland", das Fritz Stern mit "großem Vertrauen und kleinem Unbehagen" zu Europas Führungsmacht aufsteigen sieht, die Begrenzungen der Vergangenheit hinter sich zu lassen beginnt, bleiben Grenzen der Normalität. "Es gibt keinen Schlussstrich. Der Nationalsozialismus lastet auf uns allen. Er vergeht nicht." Der Einwurf des 1938 aus Deutschland emigrierten Historikers in eine deutsche Debatte war eindeutig. Den Namen des Preisträgers vom letzten Jahr brauchte er nicht zu erwähnen. Und selbst wenn die Politik am Ende eines Jahrhunderts blutiger Visionen wieder die Grenzen des Pragmatischen hinter sich lassen möchte, wird man Timothy Garton Ash zustimmen müssen, dass eine Grenze zwischen Politikern und Intellektuellen bleiben muss.

Der Dialektik von Entgrenzen und Begrenzen entgeht niemand, nicht einmal der Wortmächtigste. Am Messesamstag konnte man sie mit Händen greifen, als ein huldvoller Günter Grass am Stand seines Verlages unter Trommelwirbel seinen 72. Geburtstag feierte und vom Tisch herab das Glas auf die Gäste hob. Den hervorragendsten Schabloneur der Literatur von allem für alle, und grantigsten Rüttler an dem Grenzzaun, der Politik von Kunst trennt, schützten zwei stämmige Männer im dunkelblauen Anzug und Knopf im Ohr vor dem Volk, das rings um ihn anbrandete.

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