Hassliebe

Schizophren Claudia Ruschs "Meine Freie Deutsche Jugend"

Was ist wahrer als die Geschichte? Geschichten! Als Ingo Schulze 1998 seinen Roman Simple Storys veröffentlichte, schien das ein Sieg der Kunst über die Wissenschaft. Nur die Literatur, die Fiktion, schien das Unsagbare der Existenz im historischen Übergang ausdrücken zu können, keine Soziologie, keine Transformationsforschung, keine Statistik. In 29 Episoden "aus der ostdeutschen Provinz", einer Mischung aus Raymond Carver und Lindenstraße, erzählte der 1962 geborene Schulze von dem Leben im Zwischenreich nach dem Epochenbruch 1989. Der Band mit den verdammt lebensnahen, aber frei erfundenen Geschichten galt als die Quelle für ostdeutsche Nachwende-Realität. Spätestens seit Jana Hensels Zonenkinder hat sich das Blatt gewendet. Nun ist wieder die hohe Zeit der "home"- und "true"-Storys. Diesmal aber aus der guten alten DDR.

Natürlich ist es prima, dass eine Generation, die zehn Jahre jünger als die junge Hoffnung Ingo Schulze ist, plötzlich "Zurück zur Geschichte!" ruft. Problematisch wird der neue Erinnerungsfuror erst, wenn sich in den realen Geschichten, die er gebiert, das Politische so ins Private, Anekdotische, Skurrile verkleinert, dass es kaum noch auffindbar ist. Für Jana Hensel gibt es ein Menschenrecht, sich an den ganz normalen DDR-Alltag zu erinnern, ohne immer gleich die Moralschere West im Kopf zu haben. Wer würde da widersprechen? Wie politisch dieser Alltag aber sein konnte, zeigt nun Hensels 1971 geborene Zonenschwester Claudia Rusch.

Gewiss ist ihre DDR-Biographie nicht unbedingt typisch für die DDR-Mehrheit. Sie wuchs im Umfeld der Dissidenten Katja und Robert Havemann auf. Die unbotmäßigen Kommunisten und Bürgerrechtler standen in Berlin-Grünheide unter Hausarrest. Die grauen Männer in den kleinen Autos, die sie bewachten, waren der kleinen Claudia von Kindesbeinen an vertraut. Auch wenn der Umgang mit diesem schweigsamen DDR-Inventar mitunter komische Züge annahm. So glücklich konnte man da selbst als unbedarftes Kind den Alltag nicht mehr nehmen. Selbst als Claudia einmal von einem Volkspolizisten einen Apfel geschenkt bekam, "erwachte das diffuse Gefühl von Bedrohung, das mich meine ganze Kindheit begleitet hat."

Rusch hat also keinen Grund zur Ostalgie. Ihr Großvater starb in einem Gefängnis der Staatssicherheit. Die beste Freundin ihrerMutter war IM. Für die Ostwaren, die die Ostalgiewelle West nun wieder zu profitablen Zombies erweckt, hat sie auch heute nur Verachtung übrig. "Ich habe sie damals verweigert. Und ich esse sie auch heute nicht...Das meiste schmeckt wie früher: fade und irgendwie staubig". Die schönste Geschichte für ihr ungestilltes Freiheitsbegehren findet sie, als sie am Strand der Ostsee die unerreichbare Fähre in das "Märchenland" Schweden sieht - "das weiße Schiff in der Ferne".

Trotzdem zeichnet Rusch kein Horrorbild vom DDR-Alltag, sondern spürt seiner "alltäglichen Schizophrenie" nach. Obwohl systemkritisch, wird sie FDJ-Sekretärin in der Oberschule. In der Jugendweihe schwört sie mit gekreuzten Fingern auf den Staat. Trotzdem sagt das Kind reformkommunistischer Eltern, dessen erster Weg nach der Wende nach Frankreich führt, im Nachhinein: "Ich wollte, dass es etwas Gutes an der DDR gab." Im denkbar letzten Moment gewährt Claudia dem untergehenden Staat so etwas wie Loyalität. Und im Sommer 1990 hält sie mit einem Freund die Schulrede auf der Abiturfeier: "Kurz vor Toresschluss wurden Robert und ich Staatsbürger der DDR."

Rusch, die seit sechs Jahren als Journalistin arbeitet, schielt in ihren Erinnerungsvignetten oft auf flotte Pointen. Literatur wird man auch das jüngste Produkt der neuen Authentizitätsprosa nicht nennen können. Doch wenn Rusch etwas geglückt ist, dann, diese Hassliebe, die innige Dialektik aus Abwehr und Identifikation frei zu legen, die noch die schärfsten Regimekritiker mit der DDR verband - der bis heute im Westen unverstandene Urgrund der Animositäten Ost. Merkwürdig, wie man sich die Erinnerung daran manchmal abtrotzen muss: "Ich jedenfalls habe keinen Grund, mich an meine entbehrungsreiche Kindheit zu erinnern" wehrt Rusch an einer Stelle die neue Erinnerungsseligkeit ab, mit der nun jeder mäßig begabte Autor seinen DDR-Teddybär auch noch dem historischen Vergessen entreißen möchte. Das klingt wie eine Abfuhr an Hensel Und dann hat Rusch doch 25 sehr lesenswerte Episoden zu Papier gebracht. Das Leben, von dem in ihnen erzählt werden musste, war so wahr, dass es keine Fiktion vertrug. Ist die Geschichte doch stärker?

Claudia Rusch: Meine Freie Deutsche Jugend. Mit einem Text von Wolfgang Hilbig. Fischer, Frankfurt am Main 2003, 157 S., 14, 90 EUR

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