Heimat, bunte Heimat

Emanzipation Das 14. Internationale Theaterfestival in Istanbul geriet zum Vorboten des Wandels im kulturellen Selbstverständnis der Türkei

Megapolis - wenn man ein Beispiel für die Überstadt finden will, die überall den Globus zu überwuchern beginnt, dann ist es Istanbul. Der Taksim, Istanbuls zentraler Platz, ist aufgerissen. Überall werden die Straßen neu gebaut, Teer kocht auf den Baustellen, Planierraupen bahnen sich ihren Weg durch Grünanlagen. 24 Stunden am Tag verknäulen sich hier Baukräne, Busse und die Heerscharen der kleinen, gelben Taxis zu einer Springflut ohnegleichen, in der die Fußgänger wie Lachse stromaufwärts hüpfen. Istanbuls beliebteste Flanier- und Shoppingmeile, die Istiklal Caddesi, die Schlagader seines europäisch orientierten Herzens ist zum Bersten mit Menschen gefüllt wie eh und je. Nur die vielen Polizisten und die Burg aus Sandsäcken um das britische Generalkonsulat erinnern noch an die Anschläge islamistischer Attentäter vom letzten Herbst. Beim obligatorischen Samstagabendspaziergang in diesem Bienenschwarm spürt man schon mal unversehens die Mündung eines Maschinengewehrs im Rücken. Die 14-Millionen-Metropole am Bosporus ist Körperkampf. In diesem Tanz auf dem Vulkan, wo alle auf das nächste Erdbeben warten, muss es lächerlich wirken, die Stadt zur Metapher zu erklären.

Metapolis hieß die Produktion des belgischen Tanzensembles Charlesroi, die Mitte Mai in Istanbuls Atatürk-Kulturhalle, genau am Taksim, das 14. Internationale Theaterfestival der Türkei eröffnete. Doch was soll man in einer Stadt, wo der Alltag das größtmögliche Drama ist und alle auf das nächste Erdbeben warten, mit einer Choreographie, in der sich die Fliehkräfte des Urbanen ins Immaterielle verflüchtigen. Frederic Flamand hatte zwölf Tänzer in Kostüme der iranischen Stararchitektin Zaha Hadid gehüllt und in ein Fadenkreuz der Simulationen gestellt: Auf Videosequenzen raste der Betrachter durch Architektursimulationen und imaginäre Tunnel, stand an Kreuzungen oder blickte aus dem Helikopter auf Stadtlandschaften vom Pfahlbau bis zum Wolkenkratzer - den Bewohnern einer sehr realen Stadt mit besonderen Härtegraden entlockte Flamand damit aber nur ein müdes Schmunzeln.

Es hätte des Imports dieses belgischen Repräsentativmöbels aus dem Fundus des europäischen Festivalwesens nicht bedurft, um dem Istanbuler Theaterfestival einen spektakulären Auftakt zu bescheren. Seit die Wuppertaler Choreographin Pina Bausch vor zwei Jahren am Goldenen Horn einen Workshop leitete und das Ergebnis dieses Kunst-Joint-Ventures namens Istanbul-Projekt im letzten Sommer ein rauschender Erfolg am Bosporus wurde, blüht in der Türkei das Tanztheater. Als die umjubelte Truppe der jungen Tänzerin Candas¸ Bas¸ mit ihrem Stück Mirror einen Gruppenkörper aus aggressiver Symbiose bildete, der in alle Richtungen ausschlug, konnte man sehen, wie man das Verhältnis von Körper und Stadt mimetisch angemessen übersetzen kann.

Der Erfolg von Stücken wie Mirror markiert die langsame Emanzipation vom klassischen Ballett, das seit der Gründung der Republik die türkische Tanzszene dominierte. Doch wenn die junge Tänzerin und Choreographin ihr Interesse an dem neuen Genre mit den Worten begründet: "Ich bin diese elaborierten Tanzübungen leid", wird deutlich, dass darin mehr als eine bloß ästhetische Nachholbewegung steckt. Die Bildschirme auf der Bühne und den ausgeprägten Club-Appeal ihres Stückes mag man zwar modisch finden. Doch in einem Land, in dem zwei Drittel der Bevölkerung unter 30 Jahre alt sind, gerät das ansteckende Interesse, sich aus dem etablierten Kanon an Bewegungsformen zu befreien, auf die man spätestens seit der Schule getrimmt wird, unweigerlich zu einem Politikum.


Istanbul präsentiert sich dem Besucher immer in einer süchtig machenden Ambivalenz zwischen West und Ost. Die Stadt bereitete sich auf die NATO-Tagung Ende Juni vor und beging am 29. Mai gleichzeitig mit Inbrunst den Jahrestag der Eroberung von Byzanz durch den Islam - 1453 nahm Mehmet der Eroberer die Stadt nach langer Belagerung ein und machte das Rom des Ostens zur Hauptstadt des Osmanischen Reiches. Doch das türkische Theater, das lehrte der dreiwöchige Querschnitt durch das türkische Bühnenschaffen, gehört längst zu West-Europa - mit seinen ganz normalen Theaterproblemen. Niemand muss mehr auswandern wie die deutsch-türkische Schriftstellerin Emine Sevgi Özdamar, die Ende der siebziger Jahre, nachdem die Militärs mal wieder eines der türkischen Theater geschlossen hatten, nach West-Berlin flüchtete, zur Ost-Berliner Volksbühne ging und zu ihrem Intendanten sagte: "Herr Besson, ich bin gekommen, um von Ihnen das Brechttheater zu lernen."

Am Bosporus versucht man genauso erfolglos wie im übrigen Europa, die Klassiker zu modernisieren. Der Hamlet des Staatstheaters Ankara gab sich diesmal als Traumtänzer und rauchte Haschisch in Zeitlupe. Trotzdem scheint Deutschland vielen Theaternationen immer noch die Fähigkeit voraus zu haben, den Klassikern brennende Zeitgenossenschaft zu entlocken. Die Nora-Inszenierung des Berliner Schaubühnen-Chefs Thomas Ostermaier, hierzulande schon mal als populistischer Kassenknüller beargwöhnt, wurde in Istanbul mit standing ovations gefeiert. Auch am Bosporus kämpft man mit den neuen Medien. Oedipus in Exile hieß eine Aufsehen erregende Produktion der türkischen Theatermacherin S¸ahika Tekand. Sie vermochte der Bühne die Logik des Bildschirms anzuverwandeln, ohne das Drama zu ersticken. In einem pechschwarzen Amphitheater standen vier große, mit dem Personal des Sophokles gefüllte Stahlgerüste. Das Drama wird wie beim zapping an- und ausgeknipst. Tekand dachte nicht an Entschleunigung oder kontemplative Klassikerverehrung. Im Gegenteil: Die wie rasend beschleunigte Sprache und Bilderfolge verschärfte das Gefühl des Unausweichlichen der Tragödie.

Zu der europäischen Normalität türkischen Theaterschaffens gehört auch in der Türkei die Erkenntnis, dass das Theater nicht mehr die Primadonna der Kultur ist. Seit den neunziger Jahren, als in dem Land unter dem neoliberalen Ministerpräsidenten Turgut Özal die Medien privatisiert wurden, nimmt sich der Sisyphus-Job, mit dem Theater die Realität zu verfeinern, wie der Versuch aus, in einem Raucherclub mit einer Duftkerze für bessere Luft zu sorgen. Die kulturelle Identität wird heute in 40 Vorabendserien und rund 20 TV-Kanälen, darunter allein sechs des staatlichen Fernsehens, verhandelt. Popstar heißt eine beliebte Serie, die die alles überstrahlenden Könige der Massenkultur krönt. Es muss ein Albtraum für die strenggläubigen Kemalisten und ihre Idee einer einheitlichen türkischen Identität gewesen sein, als die Popstar-Zuschauer vor kurzem den 23 Jahre alten Bayhan aus dem ländlichen Adana zu ihrem Favoriten erkoren. Der in Deutschland geborene Sänger, mit 18 Jahren wegen Mordes zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt, sang zu allem Überfluss auch noch in jener arabesken Form, die Jahrzehnte lang aus dem staatlichen Fernsehen verbannt war. Dikmen Gürün, seit gut zehn Jahren unermüdliche Direktorin des Istanbuler Theater-Festivals und Universitäts-Dozentin für Theaterkritik, ficht gegen Windmühlenflügel: "Es ist absurd. Ich kann das nicht akzeptieren. Diese Leute geben den jungen Menschen doch nichts". Doch gegen die Stars der wilden neuen Multikultur, die jeden Abend am Bildschirm geboren werden, sieht eine weitere große alte Dame des türkischen Theaters wirklich alt aus. Der neunzigminütige Monolog der 76-jährigen Yildiz Kenter nach Szenen des Stücks des belgischen Starautors Eric Emmanuel Schmitt Oskar und die Dame Rosa begeisterte auf dem Festival zwar die überschaubare türkische Theatergemeinde. Doch beim Grand Prix d´Eurovision unmittelbar am Festivalvorabend lagen der rotzigen türkischen Punk-Band Athena an einem Abend mehr Zuschauer zu Füßen als dort vermutlich in Jahren ins Theater gehen.


Auch am Theater geht diese schleichende Verwandlung der türkischen Identität nicht vorbei. Wohin man auch schaut - es ziehen sich tiefe Risse durch die Fiktion der reinen "turkishness", mit der Mustafa Kemal Pascha das auseinander fallende Reich der Sultane wie Phönix aus der Asche hob. Welch weitreichender kultureller Selbstbefragung sich die Türkei derzeit unterzieht, konnte man in dem vom Berliner Hebbel-Theater koproduzierten Stück Home, Sweet Home sehen. Die junge Regisseurin Emre Koyuncuog?lu arrangierte eine verstörende Bilderfolge türkischer Identität aus Fußballspielern, verschleierten Frauen und kurdischen Arbeitslosen. Zum Schluss knetete eine Tänzerin einen riesigen Berg Hackfleisch. Und es gehörte zu den ästhetisch und politisch eindruckvollsten Abenden, als die Schauspielerin Sema, die Piaf von Istanbul, mit klagender Stimme kurdische, koptische, griechische, syrisch-arabische und sephardische Gesänge vortrug - alles Völkerschaften, deren bloße Existenz die Republik stets leugnete. Ashura hieß das Stück nicht umsonst. So heißt eine beliebte, müsliähnliche Süßspeise in der Türkei, die aus vielen gegensätzlichen Zutaten von süß bis sauer komponiert ist. Zu Semas Gesang sah man an der Bühnenwand Projektionen türkischer Volkszählungsstatistiken seit 1929. Darin stieg die Anzahl der "Türken" (im Osmanischen Reich ein Schimpfwort) ständig, während die der anderen Völker abnahm. "Die Türkei ist eins und kann nicht geteilt werden", steht auf den Atatürk-Denkmälern, die man in jeder Stadt in der Türkei findet. Doch wenn nicht alles täuscht, verwandeln Atatürks Enkel ihr Land langsam aber sicher zu einer bunten Heimat mit vielen Gesichtern.

"In der Schule", sagte die Schriftstellerin Buket Uzuner zu diesem Thema beim Abendessen belustigt, "haben wir ja gelernt, dass die Türken vom Himmel gefallen sind." Die 1955 geborene Autorin avancierte mit ihrem Geschichtsroman Gallipoli über die siegreiche Schlacht der Türken gegen die Briten auf den Dardanellen 1915 zu einer der populärsten Autorinnen und hartnäckigsten Kritikerinnen ihres Landes. "Allmählich", sagt sie, "entdecken wir aber, dass wir von irgendwo her kommen. Wir entdecken die Spuren der anderen in unserem Land. Im Grunde hat man immer gewusst, dass wir armenische Vorfahren und kurdische Mitbürger haben. Aber niemand hat darüber gesprochen. Jetzt dringt das langsam aber sicher ins Bewusstsein. Denken sie an Atatürks Stieftochter. Erst vor ein paar Jahren kam heraus, dass sie armenische Vorfahren hatte."

Die hedonistische Popjugend der Türkei kann man zwar auch mit solchen brisanten Themen locken. Yücel Erten vom Stadttheater Izmit hat Aristophanes´ Komödie Frieden sehr zeitgenössisch übersetzt und nach Anatolien verlegt. Seine Inszenierung war ein gelungenes Beispiel dafür, wie man das politische Theater beleben kann, das nach dem letzten Militärputsch in den entpolitisierten achtziger Jahren verschwunden war. Doch gegen das schrille Konsumgewand der MTV-Generation, die jeden Abend Istanbuls Innenstadt auf den Hügeln von Beyoglu bevölkert, muss die bunte Schar von Bauern, mit denen Erten die Idee einer "ägäischen Identität" gegen die hartnäckigen Nationalismen an Europas Südostflanke stellt, wie biedere Folklore wirken. Junge Theatergänger halten es lieber mit den harten Lounge-Rhythmen von Candas Bas´ Tanztheater: "Wir alle zappeln vor dem großen Spiegel in Reflektionen und Illusionen", sagt die enthusiastische Istanbuler Choreographin. Was könnte sie damit anderes meinen als ihre große, große Stadt.


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