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Gepäck Marcel-Reich-Ranicki wird Ehrendoktor der Berliner Humboldt-Universität

"Du fährst, mein Sohn, in das Land der Kultur". Als ihm Fräulein Laura, seine Lehrerin im Sommer 1929 diesen Satz mit auf den Weg gibt, kann Marcel Reich nicht viel damit anfangen. Der Sohn polnischer Juden in Wlodawek an der Weichsel war gerade mal neun Jahre alt. Nach Berlin, zu seinem Onkel, wohin ihn seine bankrotten Eltern vorschicken wollten, um später nachzukommen, war für den jungen Marcel zunächst kein geistiges Versprechen, sondern ein technisches "Traumland": Eine Stadt mit Untergrundbahnen und Rolltreppen. Schnell erwuchs aus dieser, aus der Not geborenen Begegnung dann doch so etwas wie eine kulturelle Liebesgeschichte.

Anfangs hatte der Schüler Marcel noch mit der Mathematik geliebäugelt. Doch zum Schluss war er "verliebt in die Literatur". Bis zum Herbst 1938 verschlang der ungewöhnlich Lesewütige die wichtigsten Werke der deutschen Klassik und der Weltliteratur von Shakespeare bis Schiller. Was für ein Gefühl muss es für ihn gewesen sein, als ihm im Frühling 1938 die Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität die Immatrikulation als Literaturstudent verweigerte?

In seinen Erinnerungen Mein Leben notiert Reich-Ranicki, dass sich der Rektor der Universität in einem Gespräch, auf das er gedrängt hatte, auf den Mangel an Studienplätzen herausreden wollte. Auf dem Ablehnungsbescheid vom 7. April 1938, der sich später fand, war der Grund jedoch unmissverständlich formuliert: "jüd." lautete das folgenschwere Kürzel. Die Deportation folgte sechs Monate später. Mit einer Aktentasche, fünf Mark, einem Reservetaschentuch und Honoré de Balzacs Roman Die Frau von dreißig Jahren wurde er auf eine Reise geschickt, die ihn bis ins Warschauer Getto führen sollte.

Der später unter seinem Decknamen aus Geheimdienstzeiten Reich-Ranicki bekannt gewordene hat nach dem denkwürdigen Besuch bei dem Berliner Rektor nie wieder eine Universität betreten. Bis zum Jahr 1961. Da war der Literaturkritiker, der in Göttingen eine Vorlesung halten sollte, selbst schon eine geistige Institution. Wenn nun an diesem Freitag dieselbe Universität, die ihn einst abwies, dem heute 86-jährigen die Ehrendoktorwürde der Philosophischen Fakultät verleiht, ist das keines der leeren Rituale, bei dem diese Staubfänger sonst vergeben werden. Auch wenn Reich-Ranicki schon wichtigere erhalten hat. "Ein helleres, strahlenderes Licht kann auf mein Leben nicht mehr fallen", hatte er bei der Verleihung des Goethe-Preises der Stadt Frankfurt 2002 gerührt gesagt.

Nicht alle in der Humboldt-Universität waren offenbar glücklich darüber, wie und dass eine große Frankfurter Tageszeitung diese und nur diese Ehrung für ihren einstigen Literaturchef durchgeboxt hat. Es wären auch andere symbolische Formen der Rehabilitierung denkbar gewesen. Trotzdem ist die Ehrenpromotion ein überfälliger Akt der Wiedergutmachung. Und eine notwendige Erinnerung daran, wie bereitwillig sich die Wissenschaften vor noch nicht allzu langer Zeit dem NS-Rassenwahn unterwarfen. Bleibt zu hoffen, dass die Exmatrikulierten und Nicht-Zugelassenen von damals, die heute keine publizistischen Hilfsbataillone ins Feld führen oder den Glanz der Prominenz für sich reklamieren können, nach dem einen, strahlenden Festakt nicht vergessen werden.

Als unorthodoxer Interpret von Schillers Wilhelm Tell im Gymnasium zu Berlin hatte Marcel Reich-Ranicki die Erfahrung gemacht, "dass man in der Literaturbetrachtung auch etwas riskieren müsse und ... sich von Klassikern nicht einschüchtern lassen solle". Das hat ihn später nicht daran gehindert, Thomas Mann auf eben diesem Sockel so turmhoch zu platzieren, dass er dort unerreichbar erscheinen musste. Und der Kritiker, der in Berlin Erich Kästners unprätentiöse Großstadtlyrik schätzen und die "Poesie der Seher" verachten gelernt hatte, hat sich selbst nicht ungern als unfehlbaren Literaturpapst inszenieren lassen. Die Trivialisierung der Literaturkritik, die der gelegentlich zum Medienmonster mutierte MRR dabei in Kauf genommen hat, ändert nichts an seinem fundamentalen Verdienst: "Ich hatte aus dem Land, aus dem ich nun vertrieben wurde", schreibt er in Mein Leben, "die Sprache mitgenommen, die deutsche, und die Literatur, die deutsche". Mit diesem "unsichtbaren Gepäck" kam er 1958 als Literaturkritiker nach Deutschland und vermittelte dem Land wieder seine besseren Traditionen. So hat der polnische Jude deutscher Geistesnation dem Land seiner Mörder einen Teil seiner Kultur zurückgegeben. Gegen diese Leistung wirken Ehrendoktorhüte einigermaßen belanglos.


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