Hauptsache Türke! Auf solche und ähnliche Reaktionen stieß in den vergangenen Wochen, wer die Diskussion in türkischen Zeitungen vor und nach der Stockholmer Entscheidung über die Verleihung des Literaturnobelpreises an den Schriftsteller Orhan Pamuk verfolgte. Was immer der Mann verleumderisches über Kurden, Armenier und die türkische Geschichte gesagt haben mag, so der Tenor einiger Stimmen, Hauptsache, der Prestigepreis schlechthin geht zum ersten Mal an einen Türken. Kann man angesichts dieser nationalistischen Anverwandlung eines Künstlers, den viele Türken noch vor kurzem als "Nestbeschmutzer" beschimpften, von einem "Garanten des Anti-Nationalismus" sprechen, wie der Präsident der Berliner Akademie der Künste, Klaus Staeck, die Wahl der Schwedischen Akademie begrüßte?
Man kann. Mit schmissigen Etiketten und großen Programmen hat es der 1952 in Istanbul geborene Romancier zwar überhaupt nicht. Für Pamuk besteht die Aufgabe der Literatur darin, "die großen Ideen vom Rande her wie eine Maus zu benagen ... und im Leser Zweifel an den ewig gültigen Meinungen zu wecken". Und wenn es Vokabeln gibt, die auf seine Literatur passen, dann Charakterisierungen wie filigran, anspielungsreich, geheimnisvoll, intertextuell. Der Autor Pamuk will den Leser schon unterhalten. "Dennoch", fügte er einmal hinzu, "habe ich nie auf das Doppelsinnige, das Undurchsichtige oder Dunkle beim Schreiben verzichtet".
Um so mehr überraschte es, dass der differenzierte, stille Mann, der Politik im Grunde seines Herzens verabscheut, im vergangenen Herbst mit Schnee (Freitag 17/2005) einen Roman vorlegte, der an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig ließ und vor Politik nur so strotze. Vor der Kulisse des südostanatolischen Provinzstädtchens Kars zeigt Pamuk darin wie in einem Brennspiegel ein Bild der modernen Türkei: eine explosive Mischung aus fanatischen Islamisten, putschenden Militärs und resignierten Kemalisten. In ihrer Mitte agiert der traurige Schriftsteller Ka, ein Alter ego seines Autors, der das Chaos nur hilflos registrieren kann und ihm am Schluss im weit entfernten Frankfurt am Main zum Opfer fällt.
Das Politische an diesem Buch ist so aufdringlich, dass es Pamuks Leidenschaft für die Versenkung in die entlegensten Details der osmanischen Geschichte und seine Liebe zum Elfenbeinturm der "reinen Literatur" Lügen zu strafen scheint. Und das Bild einer zerrissenen, mit sich selbst im Unreinen Türkei, das er darin zeichnet, dürfte den Nationalisten, die ihn dieser Tage zähneknirschend als großen Sohn der Türkei loben, gewiss noch einige Zeit wie Blei im Magen liegen.
Trotz dieses skeptischen Blicks auf sein eigenes Land bleibt Pamuk an die Türkei und ihre Geschichte(n), Traditionen und Dinge mit melancholischer Anhänglichkeit gefesselt. Nichts ist falscher als der gehässige Kommentar "Orhan Pamuk redet ohnehin nur, wie die Europäer es wollen", mit dem vergangene Woche ein Türke im Internet seinem Unmut über die Preisentscheidung Luft machte. Hätte solch ein Speichellecker der westlichen Welt nach den Anschlägen vom 11. September in New York den Satz ins Stammbuch geschrieben: "Was den Islamisten, die Frauen das Gesicht mit Salpetersäure verätzen, weil sie es entblößen, am meisten hilft, ist das aggressive Unverständnis des Westens"?
Wie wenig man Pamuk als unreflektierten Kollaborateur des Westens diffamieren kann, lässt sich an seinem 1994 in der Türkei erschienenen Roman Das neue Leben ablesen. Die titelgebende Bonbonmarke namens "Neues Leben", die in diesem turbulenten Road-Movie leitmotivisch immer wiederkehrt, ist ein Symbol für die Verdrängung der östlichen Kultur durch die westliche. Früher, so erinnert sich der Held des Buches Osman, Architekturstudent wie einst sein Autor, konnte man mit dem in der ganzen Türkei verbreiteten Zuckerwerk wie mit Kleingeld bezahlen. Inzwischen gibt es das Bonbon nicht mehr. Die Herstellerfamilie, findet Osman heraus, hat sich in "weit entfernte Orte" zerstreut, "als wollten sie vor den bunten Konsumartikeln mit fremden Namen flüchten, die mit Hilfe der Werbung und des Fernsehens vom Westen her das ganze Land einer ansteckenden tödlichen Krankheit gleich überzogen".
Solche subtilen, antiwestlichen Affekte durchziehen das ganze Werk Pamuks. Mit einiger Sympathie hört man in Schnee dem geheimnisvollen Terroristen Lapislazuli zu, wenn er im Streit mit dem Schriftsteller Ka ausstößt: "Weder werde ich Europäer noch ahme ich sie nach. Ich werde meine eigene Geschichte leben und ich selbst sein. Ich glaube daran, dass die Menschen auch glücklich werden können, ohne die Europäer zu imitieren und zu ihren Sklaven zu werden". Mehr als einmal gewinnt man bei solchen Passagen den Eindruck, dass Pamuk, der in einer westlich orientierten Istanbuler Mittelstandsfamilie im (groß)bürgerlichen Stadtteil Nis?antas?i aufwuchs, doch irgendwie dem bewunderten Romancier Dostojewski gleicht, jenem Mann, von dem er einmal mitfühlend sagte, dass er "sich nicht völlig der westlichen Welt zugehörig fühlt, aber doch vom Glanz ihrer Zivilisation geblendet ist".
Freilich transportiert Pamuk so weniger Affekte, als dass er ihnen ein Ventil bietet. In seiner Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Oktober 2005 formulierte er, dass "jene Wirklichkeit, die uns nur stumm beschämt, solange sie geheim bleibt ... durch die Imagination des Schriftstellers ihrer Geheimnishaftigkeit beraubt und damit zu einer neuen Welt (wird), mit der man sich auseinanderzusetzen hat". So artikuliert Pamuk in seinem Werk das Un- und Halbbewusste seines Landes im Übergang zwischen Tradition und Moderne. Und vielleicht wird es erst mit seiner Literatur so verhandelbar, dass es nicht so explodiert wie die politischen Konflikte in Kars aus dem Roman Schnee.
Pamuk ist sich darüber im klaren, dass er diese Arbeit mit einem Instrument unternimmt, das er selbst einmal als "Sieg des Westens" bezeichnet hat - dem Roman. Wie vorteilhaft man ihn jedoch nutzen kann, hat er in seinem faszinierenden Werk Das Schwarze Buch gezeigt. Mit der Geschichte des jungen Rechtsanwalts Galip, der da in einer immer absurderen Irrfahrt durch Istanbul nach seiner verschwundenen Ehefrau Rüya sucht, variiert Pamuk das Motiv der Identitätssuche und des Identitätswechsels aus dem mystischen, dem volkstümlichen Islam der Nächstenliebe. In Gestalt der Busreisen, die der Student Osman durch die Türkei unternimmt, taucht diese Idee der lebenslangen Reise als Modell der Selbsterkenntnis auch im Roman Das neue Leben auf. So recycelt Pamuk die spirituellen Energien der islamischen Vormoderne und ihre kulturellen Sedimente in den Formen der europäischen Hochmoderne. Mit dem labyrinthartigen Zwischenreich aus Traum, Realität und ineinanderfließenden Charakteren, das dabei entsteht, baut Pamuk eine Brücke zur Postmoderne. Nebenbei fächert er, Buch für Buch, den Schwelbrand der türkischen Identitätskrise und das ganze Panorama der Hassliebe zwischen Orient und Okzident, zwischen Ost und West auf.
Pamuk verfolgt dieses Projekt mit einer staunenswerten Fülle von Sujets und Perspektiven. Mühelos wechselt er vom Istanbul der kleinen Leute des 20. Jahrhunderts in die Sultans-Paläste des 16. Jahrhunderts. In dem kunstvollen Roman Rot ist mein Name lässt Pamuk Liebende, Mörder, Münzen und sogar Farben sprechen. Im Gewand eines Kriminalromans und einer Liebesgeschichte entfaltet er den Konflikt zwischen dem religiösen Welt-Bild des Islam und der Renaissance. Um den ewigen Widersachern in Venedig zu imponieren, lässt Sultan Murat III. insgeheim ein Buch "im Stil der frankischen Meister" malen, in dem sein (eigentlich verbotenes) Porträt auftaucht und Menschen und Dinge in der Zentralperspektive angeordnet werden. Weil die Gottesfürchtigen Blasphemie wittern und das "Ende der islamischen Malerei" fürchten, müssen zwei Buchmaler sterben. Mit diesem Szenario findet Pamuk nicht nur ein bezwingendes Bild für das Trauma des Traditionsverlustes des Islam, den verzweifelten Versuch, es dem Westen gleich zu tun. Erfängt darin auch für den bis heute nicht endenden Kampf zwischen Orthodoxie und Aufklärung ein, der nicht nur im Islam tobt.
Rot ist mein Name mit seinen eindrucksvollen Schilderungen der islamischen Kunstgeschichte, zeigt, wie tief Pamuk sich in den Fundus der von den Kemalisten verpönten vortürkischen Geschichte vorgearbeitet hat. Doch er sucht dort nicht nach nationalistischen Beweisstücken, sondern legt die gekappten Fäden und verschütteten Verbindungen zwischen Ost und West frei. In seinem frühen Roman Die weiße Festung lässt er den gelehrten Venezianer, der 1657 nach einer Seeschlacht als Sklave eines Hodschas nach Istanbul gelangt, eines Tages den Ruf ausstoßen: "Ich bin du geworden". Die geheime Wunderwaffe, die Herr und Knecht für den Sultan erfinden, bleibt zum Glück im Schlamm stecken. Aber in dem Bild des Muslims und des Christen, die gemeinsam über Astronomie, Geographie und Physik grübeln, scheint so etwas auf wie eine Lerngemeinschaft zwischen Ost und West, in dem sich beide einander annähern - ein Neues Leben jenseits des "Kampfs der Kulturen".
Kurz und gut: Die Wahl der Schwedischen Akademie 2006 war mutig und richtig. Orhan Pamuks Werk gehört zu den aufregendsten, weil komplexesten uvres der neueren europäischen Literatur. Wieder erneuert ein Autor von der Peripherie im Osten, ähnlich wie im Fall Juri Andruchowytschs, einen Markenartikel des Westens und demonstriert damit die Vitalität und Modernität der Literatur. Erleichtert nimmt man zur Kenntnis, dass dieser außergewöhnliche Künstler nicht noch zwanzig Jahre warten musste, bis ihm eine herausgehobene Institution ästhetischer Urteilskraft seine besondere Qualität beglaubigte.
In politisch brisanten Zeiten setzt die Verleihung des Literaturnobelpreises aber auch ein überfälliges politisches Signal. Zielbewusst setzt sie auf einen Autor aus dem muslimischen Raum, der eine exemplarische kulturelle Selbstbefragung vorführt, die religiöse Tradition für eine säkulare Zukunft aufbereitet und auf Verflechtung setzt statt auf Konfrontation. Diese Anerkennung stärkt auch die türkische Literatur insgesamt. Auch wenn sie immer noch unter dem Damoklesschwert des Paragraphen 301 des türkischen Strafgesetzbuches steht, der die "Verunglimpfung des Türkentums" unter Strafe stellt. Die Preisentscheidung promoviert in einem muslimischen Schwellenland den Diskurs, der imstande wäre, die Diskurse von Religion und Macht langfristig, wenn nicht zu ersetzen, dann doch entscheidend zu relativieren - die Kunst.
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