Ich hab‘s verpasst!

Epochenbruch Die Anthologie "Die Nacht, in der die Mauer fiel", beweist, dass Schriftsteller manchmal auch nur ahnungslose Menschen sind

Als Stefan Zweig seineSternstunden der Menschheit: Vierzehn historische Miniaturen" target="_blank"> Sternstunden der Menschheit schrieb, wusste er noch nichts vom 9. November 1989. Würde er das Buch heute vervollständigen, müsste er das Datum der jüngsten deutschen Geschichte aber zweifellos aufnehmen. Denn es erfüllt alle Kriterien, die Zweig für solche Sternstunden aufgestellt hat: „Solche dramatisch geballten, solche schicksalsträchtigen Stunden, in denen eine zeitüberdauernde Entscheidung auf ein einziges Datum, eine einzige Stunde und oft nur eine Minute zusammengedrängt ist, sind selten im Leben eines Einzelnen und selten im Laufe der Geschichte. Ich habe sie so genannt, weil sie leuchtend und unwandelbar wie Sterne die Nacht der Vergänglichkeit überglänzen.“

Der Unterschied zu den historischen Momenten, die Zweig in seinen vierzehn Miniaturen verewigt hat, ist der, dass der Dammbruch jenes Tages ein Massenereignis par excellence war. Es fehlt sozusagen die paradigmatische Figur, die sich hier vor der Geschichte zu bewähren hat.

Die Umstandskrämerei, mit der Günter Schabowski am nämlichen Abend auf der nämlichen Pressekonferenz umständlich seinen berühmten Zettel hervorkramte und mit den genuschelten Worten „sofort“ und „unverzüglich“ Reisefreiheit dekretierte, gehört sicher nicht zu der Art Bewährungsprobe, die Lenin 1917 bei der Rückkehr nach Russland zu bewältigen hatte oder Graf Grouchys bei dem Versuch, Napoleon 1815 bei Waterloo zu Hilfe zu kommen - zwei von Zweigs „Helden“.

Am ehesten ist es vielleicht noch die hilflose Entscheidung des Stasi-Oberstleutnants Harald Jäger, der am späten Abend des 9. November den Grenzbaum am Grenzübergang Bornholmer Straße nach oben gehen ließ. Tausende standen am Übergang. Stundenlang hatte Jäger vergeblich versucht, seinen Vorgesetzten Direktiven zum Umgang mit den neuen Reiseregeln zu entlocken. Dann gab er dem Druck nach.

Kommende Ereignisse

Im umgekehrten Verhältnis zu der Bedeutung dieser Nacht steht jedenfalls ihre Perzeption. Schriftsteller und die Literatur gelten gemeinhin als Seismographen, als diejenigen, die das historische und soziale Gras wachsen hören und kommende Ereignisse schreibend vorwegnehmen. Aber deren Kompassnadel schlug in diesem Fall so überhaupt nicht aus. Wie man jetzt in dem kleinen Sammelband Die Nacht, in der die Mauer fiel nachlesen kann.

Die Berliner Schriftstellerin Katja Lange-Müller beispielsweise saß in Bochum vor dem Klo und musste sich nach einer durchzechten Lese-Nacht übergeben, als sie ein Telefonanruf mit der glücklichen Botschaft erreichte. Kerstin Hensel saß in ihrer neuen Plattenbauwohnung in Berlin-Hellersdorf mit Aussicht auf leere märkische Felder, sang den Sohn in den Schlaf und ging Schlag zehn Uhr ins Bett. Am nächsten Tag wunderte sie sich, warum keiner ihrer Studenten zu ihrer Vorlesung „Antike Versmaße“ an der Schauspielschule kam.

Was eine(r) wahrnimmt, ist keine Frage der Himmelsrichtung: Die Blockaden traten in Ost wie West auf: Die deutsch-türkische Autorin Emine Sevgi Özdamar, die am 9. November mit einem Freund verliebt durch Ostberlin geschlendert war, kehrte in den Westen zurück, ohne etwas von den Ereignissen gemerkt zu haben.

Das ist weder ehrenrührig noch peinlich. Es hat etwas Befreiendes, wenn die Crème de Crème der wahrnehmenden Intelligenz sich als das zeigt, was sie manchmal eben auch ist: ahnungslos, im ganz privaten Alltag verstrickt oder abgeschlagen, an der Peripherie. Kaum einer der 25 deutschen Autoren, die der Berliner Autor Renatus Deckert um eine persönliche Reminiszenz für seine Anthologie gebeten hatte, war wirklich dabei.

Nur der Lyriker Durs Grünbein lief zum Grenzübergangspunkt Bornholmer Straße im Prenzlauer Berg und erlebte die Massenhysterie live, Kudamm-Bummel inclusive. Der „absolute Macht-und-Prinzipen-Verfall“, der sich direkt vor seinen Augen abspielte, ließ ihn „wohlig schwindeln“. Der damalige Student und spätere Büchner-Preisträger ist sich auch im nachhinein noch sicher: „Mehr Dabeisein in einem historischen Augenblick war ihm niemals beschieden, weder vorher noch nachher.“

Für die meisten anderen Beiträger gilt das Phänomen, das die Schriftstellerin Ulrike Draesner beschreibt: „Um den Herbst ‚89 steht eine Mauer, gemacht aus Zeit und heutigen Empfindungen“. Ratlos kramen sie und ihre Kollegen in Tagebüchern und Kalendern, rätseln über sibyllinischen Einträgen und kommen schließlich zu einer ähnlichen Erkenntnis wie Marcel Beyer: „Der 9. November war ein Tag ohne mich“.

Der glücklichste Tag

Der Berliner Schriftsteller Ulrich Peltzer treibt diese Mischung aus Erinnerungslosigkeit und Erinnerungsskepsis auf die Spitze, wenn er das dürre Notat in seinem Tagebuch: „Hereinströmende Massen“ mit der Frage überschreibt: „Bin ich das gewesen?“ Das Mantra vom 9. November als dem „glücklichsten Tag“ der deutschen Geschichte will einem jedenfalls angesichts dieser Erinnerungen seltsam euphemistisch erscheinen.

Schwer zu sagen, ob diese innere Distanz zum Geschehen und der Mangel an unmittelbarer Zeitgenossenschaft ein Grund für die Schwierigkeiten der deutschen Gegenwartsliteratur mit dem großen „Wenderoman“ ist, auf den alle seit Jahren vergebens warten. Schließlich hat es noch nicht einmal der direkte Zeitzeuge Grünbein geschafft, dieses Opus Magnum vorzulegen.

Andererseits: Man muss nicht notwendig „dabei“ gewesen zu sein, um Zeitgeschichte als Fiktion zu fassen. Franz Werfel hat den Musa Dagh, jenen Berg im Südosten der Türkei, auf dem er in seinem großen Rioman den Freiheitskampf der Armenier gegen die Türken angesiedelt hat, auch nie selbst betreten. Aber es macht die Schwierigkeiten dieses literarischen Ungeheuers deutlich: Jede Meistererzählung muss an der Komplexität des Ereignisses und der Schwierigkeit des Autors scheitern, einen angemessenen Standort und eine Perspektive dafür zu finden.

Wichtiger als die punktgenaue Erinnerung an vermeintlich spektakuläre Details ist womöglich die mnemische Breitenwirkung, eine Erinnerungsarbeit, bei der das Ereignis zum Katalysator wird, um Strukturen zu erhellen.

Ein glänzendes Beispiel dafür liefert die Berliner Schriftstellerin Kathrin Schmidt. Der 1958 geborenen Autorin, die in diesem Jahr den deutschen Buchpreis erhielt, fällt siedend heiß ein, dass sie am 9. November 1989 immer noch Mitglied der SED war. In einem Brief an Herausgeber Deckert versucht sie zu erklären, was sie dazu bewogen hat, noch sehr spät in die Partei ein- und erst im Dezember 89 aus ihr auszutreten.

Schmidts Brief zur Nacht ist alles andere als eine von den Heldengeschichten, wie sie derzeit auf uns niederprasseln. Aber wenn sie von der Scham über die „Dummheit, zu glauben, daß man den Apparat von innen her unterwandern könnte“ schreibt, wird aus einem rituellen Akt eine Sternstunde der Ehrlichkeit.

Die Nacht, in der die Mauer fiel: Schriftsteller erzählen vom 9. November 1989" target="_blank">Die Nacht, in der die Mauer fiel. Schriftsteller erzählen vom 9. November 1989. Hrsg. v. Renatus Deckert. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2009, 240 S., 8,90 E

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