Literatur und Preise. Das ist eine zweischneidige Sache. Entweder gehen gute Preise an die falschen Autoren: Was hat Martin Mosebach mit Georg Büchner zu tun? Oder ohnehin zweifelhafte Preise werden so vergeben, dass man sie überhaupt nicht mehr ernst nimmt. Gebührt der Deutsche Buchpreis 2007 wirklich Julia Franck oder nicht doch eher Ulrich Peltzer? Das Unbehagen an Funktion und Nebenwirkungen literarischer Auszeichnungen hat der französische Schriftsteller Jonathan Littell auf den Punkt gebracht. "Ich glaube nicht, dass Preise etwas mit Literatur zu tun haben", sagte er kürzlich in einem Interview. "Sie haben mit Marketing zu tun. Nicht mit Literatur. Mir gefällt das nicht".
Littell muss es wissen. Sein Debütroman Die Wohlgesinnten (Les Bienveillantes) über den kultivierten Nazi Max Aue schlug im vergangenen Jahr wie ein Komet in der literarischen Landschaft Frankreichs ein. Selbst als ihm höchste Ehren zuteil wurden, blieb der Newcomer, Jahrgang 1967, konsequent. Die Annahme des renommierten Prix Goncourt verweigerte Littel. Da war er nicht der erste. Schon 1964 hatte Jean-Paul Sartre den Literaturnobelpreis abgelehnt. Wenn die Berliner Literaturwerkstatt auf solche Autoren hören würde, dann müssten sie eines ihrer Aushängeschilder schleunigst abschaffen. Doch daran denkt sie zum Glück nicht.
Nun ist der open mike, den die dynamische Literaturinstitution seit 1995 jedes Jahr Anfang November in Berlin veranstaltet, neuerdings mit Hilfe der Frankfurter Crespo-Foundation, in erster Linie ein Wettbewerb. Aber einer mit Preis. Und so fern vom Marketing ist der nicht. Nie wird das Literaturhaus müde, diese Probebühne für junge Talente, die nicht älter als 35 Jahre sein dürfen, als "Türöffner des Betriebs" zu preisen und nicht etwa als "Türöffner zur Literatur", was ja auch nahe läge. Unter dem jugendlichen Publikum tummelt sich immer ein gutes Dutzend professioneller Literaturvermarkter und späht nach neuen Talenten.
Doch wenn es den nach Klagenfurt zweitwichtigsten Literaturpreis für den deutschsprachigen Nachwuchs nicht geben würde, dann hätte womöglich niemand Johann Trupp entdeckt. Dann würde der 1979 geborene Sohn kirgisischer Emigranten heute immer noch in Lingen an der Ems als Lagerist im Großhandel arbeiten, abends in seine Schreibwerkstatt gehen und von einem Erfolg wie Jonathan Littell nur träumen.
Dank des open mike stand nun dieser Johann Trupp plötzlich auf dem Siegertreppchen in der verschrammten Multifunktionshalle Wabe am Rand einer tristen Plattenbausiedlung in Berlin-Friedrichshain. Und es ging einem das Herz auf, wie wunderbar unprofessionell, ja linkisch sich der plötzlich ins Scheinwerferlicht gerückte junge Mann mit rotem Kopf hinter einem Blumenstrauß versteckte. Hier beherrschte einer nicht das gestische Vokabular des Betriebs, jene Mischkalkulation aus gespielter Neugier und hoheitsvoller Distanz. Hier ging es einem um Literatur.
Mit seinem alles andere lustigen Text Parallelgestalten hatte er das Publikum, das sonst eher das Populäre goutiert, sofort auf seiner Seite. Doch auch die qua Amt zu ästhetischer Strenge verpflichtete Jury (Georg Klein, Ante Ravic Strubel, Raphael Urweider) war angetan und erhob ihn zu einem von drei Siegern. Unter Juwelieren würde man sagen, Trupp ist ein Rohdiamant. Kein Wunder, dass ein paar von ihnen gleich nach der Lesung dem verlegenen Mann ihre Visitenkärtchen überreichten. Jetzt muss der neu entdeckte Edelstein gefasst werden. Hoffen wir, dass er Literat bleibt nach dieser Operation und nicht zum Experten des Selbst-Marketing mutiert.
Der open mike ist in gewisser Hinsicht ein Rätsel. Literarische Offenbarungen werden in diesen anderthalb Lesetagen selten geboten. Das ästhetische Credo der Allerjüngsten, die es bis dahin schaffen (660 Einsendungen, 21 Teilnehmer) ähnelt meist fatal dem alten Adenauer-Motto: Keine Experimente! Trotzdem hängt das Publikum gebannt an ihren Lippen. Das hat etwas damit zu tun, dass es sich wiedererkennen kann in diesen Texten. Und natürlich ist es furchtbar spannend, wer am Ende gewinnt. Irgendwo zwischen Oscar-Preisverleihung und Bundesjugendspiele liegt der Grund für die Attraktivität dieses Events.
Auch in diesem Jahr arbeiteten sich Autoren wie du und ich ordnungsgemäß an der verlorenen Kindheit ab, am Drama der Familie und der ersten Trennung. Und es gab die im Zeitalter des DJ etwas inflationär gewordenen Versuche, Zeitgeschichte als Musikgeschichte literarisch zu sampeln. Die pubertäre Innerlichkeit früherer open mike-Jahre war diesmal deutlich rarer gesät. Doch es wirft ein bezeichnendes Licht auf das Weltbewusstsein deutscher Jungliteraten, dass es zweier Schreibender mit "Migrantenhintergrund" bedurfte, um daran zu erinnern, dass es eine Welt da draußen gibt, die weniger an narzistischen Kränkungen leidet als an Krieg und Gewalt.
Wenn es freilich die alles überragende Lyrik nicht gegeben hätte in diesem Jahr, man am Sprachbewusstsein dieser Gegenwartsliteratur verzweifeln können, so bieder kam das alles daher. Ob von den sechs guten Poeten die 1980 geborene Judith Zander für ihre arg verträumte Naturlyrik einen der drei Preise erhalten musste, darüber kann man streiten. Doch auch sie gehört zu den Lyrikern neuen Stils: entspannt aber präzise, selbstsicher, aber wahrnehmungsoffen. Ganz von der Hand zu weisen war das Urteil von Texte-Lektor Christian Döring nicht, dass "unter blinder Prosa Lyrik sehend macht".
Johann Trupps Text rettete das erblindende Genre, weil er die Grenzen des Erwartbaren sprengte. Schwer zu sagen, ob das traurige Ich mit den zwei ungleichen Augen und der Zahnlücke, das man durch seinen Text von der Wiege bis zur Bahre begleitet, tatsächlich das Ich ist, als das es sich ausgibt oder vielleicht doch der Jemand, den es sucht. Und bei Tina Ilse Gintrowskis ebenfalls preisgekrönter Psychiatrie-Geschichte Planet Pony wusste man das Ich, das da so kunstvoll schnoddrig spricht, sich "I surf" auf den Unterarm schnitzt, nicht von dem Fuchs zu unterscheiden, der in und mit ihm tanzt.
Wenn das Politische an Vladimir Nabokovs Roman Lolita die Tatsache ist, dass mit dem Romanhelden Humbert Humbert ein sensibler Verbrecher gezeichnet wird, dann war das Politische an dem 15. open mike, dass in zwei beachtlichen Texten akribisch darauf verzichtet wurde, so banal "Ich" zu sagen, wie es die junge Gegenwartsliteratur sonst gern tut. Wenn das zweifelhafte Instrument eines Literaturwettbewerbspreises dazu gut ist, dem Malstrom Markt so ein ästhetisches Wollen unterzujubeln, dann wollen wir Autoren wie Trupp und Gintrowski noch viele Preise wünschen.
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