»Nicht in die Höhle kotzen«. Das Mädchen Meret erinnert sich, wie es früher mit einem Freund im Wald im appenzellerischen saß und heimlich Schnaps trank. Erinnerung an eine Jugend in einem Land, das verschwindet. Die Geschichte der 1952 geborenen Ruth Erat kam gar nicht unter die happy zehn des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs im sommerlich trägen Klagenfurt. Zu detailverliebt, kritisierten die Juroren die langsam, Hörnli für Hörnli dahingeknetete Geschichte vom tristen Leben abseits auf dem Schweizer Land mit seiner aggressiven Tristesse zwischen Beiz, Einkaufspark und der Erinnerung an längst verschollene Gewürznamen. »In welcher Zeit leben wir eigentlich? In diesem Text tickt eine Schweizer Uhr durch.« regte sich die ner
Ich sinke. Ich schwebe
DER SCHLAF DER ERLÄUTERUNG Beim Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Literaturwettbewerb vergab in diesem Jahr eine narkotisierte Jury die Preise mit dem Glücksrad
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nervöse Asphaltkritikerin Iris Radisch von der Hamburger Zeit auf und schmiß das Manuskript ad acta.Langsam war Erats Text schon. Aufschlußreich aber auch. Nicht nur weil darin das Kotzen häufig vorkommt, wohl diejenige Metapher, die die meisten der Texte des schreibenden Nachwuchses in Klagenfurt verband. Am ironischsten bei der ewigen Berliner Nachwuchshoffnung, dem 1951 geborenen, ästhetischen Tausendsassa Thomas Kapielski, der in der komischsten Geschichte des Wettbewerbs über seinen Ausflug zu einer Literatur-Talk-Show den Kampf mit den Frottiertüchern und Thermalbädern seines Kurhotels verliert. Ergebnis von Kapielskis »Kotzen-Nutzen-Rechnung«s-Satire auf den Literaturbetrieb, wie er in Klagenfurt jeden Sommer zu seiner rituellen Höchstform aufläuft: »Kotzen-Kotzen in Baden-Baden«. Doch die Jury schwieg nur mäßig amüsiert. Und Ulrike Längle, Verteidigerin der ironiefreien Authentizitätszone mäkelte über »dünne Stellen« eines nach ihrer Meinung zu grob gestrickten Humors. Kuhl, der negative Held in Thor Kunkels Epochenabgesang in einem Frankfurter Vorort hat einen Kotzeimer griffbereit neben seiner versifften Matratze in seinem Einsiedlerloch stehen. In Thomas Jonigks Groteske auf einen opferbereiten Schwulen übergibt der sein Erbrochenes Selbst vorne in ein Pissoir in der Kneipenunterwelt, während ihn von hinten brutal ein Türke vergewaltigt. In Christian Mährs ironischer Persiflage auf einen Erfolgsschriftsteller auf Urlaub übergeben sich dessen Kinder beim Urlaub auf den Kanaren. Familie, Geschichte, Sexualität - es hat sich was mit dem grundstürzenden politischen Zeitroman, den die helvetophobe Radisch so lautstark vermißte. Ein Jahrhundert kotzt sich aus. In kleinen Teilen. Das kann noch ein bißchen dauern. Und vielleicht ist der zähe, wenn auch sehr bröckelige Text, mit dem Ruth Erat auf die Zeitenwende reagiert, politischer als die aufgeregten Berlin-Romane zwischen bröckelnden Prenzlauer-Berg-Brandmauern. Auch wenn Erats Text eine Opferperspektive stilisiert. Ihre Szenerie ist vielleicht gar keine »Literatur mit ungeheurer Verspätung«, wie die metropolensüchtige Radisch zürnte. Denn die Kehrseite der Globalisierung sind die aus der Peripherie an die Peripherie der Metropolen Gekotzten, Aglaya Veteranyis altkluge Kinder, die aus Rumänien geflohen sind, deren Zirkusleben an einem Haar hängt, die lernen wollen, niemandem zu trauen wie ihre Mutter. Das sind die in die Peripherie Gekotzten, die in einer aussichtslosen Entschleunigung die Zeit anzuhalten suchen, die ihnen die Identität nimmt und an den Rändern, in den Regionen die toten Seitenwindungen durchmessen, die das Jahrhundert des Engagements zurückgelassen hat.Offenbar zieht sich die Schnecke Literatur, je mehr man von ihr wirbelnde Geschichtsmächtigkeit und stahlharte Zeitgenossenschaft verlangt, um so heftiger in die verschlungenen Innenwelten zurück. Die Heldin in der Geschichte Tage der Berlinerin Katharina Hacker verläßt kaum ihre Wohnung im angeblich so geschichtsträchtigen Prenzlauer Berg, erschrickt selbst über den Handwerker, der zum Fenster hineinschaut: »Warten ist die kürzeste Strecke zwischen den äußersten Punkten, die sich langsam und unaufhörlich auseinanderdriften« weiß sie. Manchmal klingt dieser schwebende Klagegesang wie ein etwas sehr kostbarer Gang durch einen verstaubten Antiquitätenladen, in dem einem jeder verblichene Teddy mit einem Arm ab zum schmerzenden Memento der Vergänglichkeit wird. Berliner Pflaster macht die Literatur nicht zwangsläufig asphalter. Jonigks bösem, hartem Text, der im Herbst unter dem Titel Jupiter erscheint, gelang das noch am ehesten. So sehr Jonigks antirealisitische Stöße gefielen. Die Werbesprüche seines devoten Schwulen, mit denen dieser sich die Unterdrückung sauberredet, sind der grotesk überzeichnenden Avantgarde letzter Schluß nicht. Auch den umschleicht die Welt »wie ein Wachhund«. Weshalb er sich Ausgehverbot erteilt.Wenn etwas die Hauptfiguren von so unterschiedlichen Autoren wie der kunstsinnigen Patricia Görg (die das neu gestiftete Stipendium des neuen Generalsponsors Telekom Austria erhielt), dem hippen Amsterdamer Quecksilber Thor L. Kunkel (der den zweiten, den Ernst-Willner-Preis erhielt) und dem bedächtigen Schweizer Wirtschaftsinformatiker Peter Stamm (der leer ausging) verbindet, dann das Waten in der stillstehenden Zeit und eine morbide Lust an der elegischen Vagheit. Die Qualle, die Stamms Ich-Erzähler in einem äußerst heißen, äußerst ziellos dahinbrütenden Italien-Urlaub am Strand findet, ist ein Sinnbild seiner eigenen Existenz: ohne Kontur, nicht zu fassen. Ein schönes Bild fand die 1971 im ungarischen Sopron geborene, in Berlin lebende Terézia Mora, die neue Bachmann-Preisträgerin. Mit dem Namen Ophelia hat sie die Heldin ihrer preisgekrönten Geschichte literaturgeschichtlich zu schwer beladen. Gut und knapp erzählt, aber auch wie eine etwas zu schöne Kunstpostkarte Marke magischer Realismus gemalt. Ihre Emigrantin aus Rumänien erschwimmt sich im kalten, azurfarbenen Wasser des Schwimmbades eines kleinen Ortes ihre Überlebensgeschichte, während die Dorfgesellschaft in der heißen gelben Heilquelle dampft. Bei Ophelia ist das Wasser, in dem sie die Welt vom »marmeladenweichen« Grund des Bassins aus betrachtet, Medium der Entrückung und Raum eines Zwischenzustandes, in dem sie schließlich eine neue Identität bildet. Anderswo spürt man die Regression. Als die Heldin in Gudrun Seidenauers durchgefallener Geschichte Leise Hände ihren geliebten Germanistikprofessor Engler als NS-Ideologen Eisner enttarnt sieht, scheint ihr als einzige Flucht aus dem Verhängnis der »Mordwörter« die »Erforschung des Schweigens« zu sein. »Rückblick« heißt die TV-Show, die Kunkels Matratzero abends glotzt und in der er sich plötzlich selbst als Showmaster mit Schlaghosen entdeckt. Von da zum Rückfall ist es nur ein Schritt. Bei Görg entscheidet sich ihr Museumswärter Maat im »Glücksspagat« zwischen den zwei geschlossenen Bilderwelten, die ihm die eigentliche Welt ersetzen: der mittelalterlichen, die er bewacht und dem Glücksversprechen des großen Rades der Fernsehlotterie, zu der er abends zurückkehrt, für das Bild »Die Irrfahrt auf dem Meer« und geht an Bord: schöne alte Welt!Wie das Glücksrad, das sich um die falschen Verheißungen dreht, rotierte der Wettbewerb auch dieses Jahr. Denn die breite Lage mittelguter Texte erzwang so viele Stichwahlen, daß der umwerfende Kapielski auf der Strecke blieb. Der unter Wert gehandelte Lautmaler Christian Uetz mit seinem langen Gesang über das Nichts, das aus kleinsten Sinnverschiebungen kommt, aber auch wieder nach oben, nämlich zum 3-sat-Stipendium, gespült wurde. So sehr der Wettbewerb den Keim eines Modells von Öffentlichkeit in sich trägt, die sich selbst schafft und reguliert. So sehr ist er inzwischen ein muppetverdächtiges Ritual wie die Ziehung der Lottozahlen geworden. Nicht nur für die weißhaarigen Österreichurlauber, die schon morgens um acht Uhr im Studio die besten Plätze besetzen, als ob es Freilose gäbe. Sondern spätestens wenn sich nach vier Wettbewerbstagen alles feierlich auf den maisgelben Hartschalensitzen vor den Fernsehkameras wie vor der Augsburger Puppenkiste versammelt, der Moderator Ernst A. Grandits mit der Sonorenstimme und dem Volumenhaar eines Kärntener Designerschwammerls zum hundertsten Mal den Juror »Robert-Walserpreisträger« Thomas Hettche vorstellt, die Frau Magister Zarikian sich vom ordnungsgemäßen Zustand der Juroren samt Stimmzettel überzeugt hat. Dann das Scherbengericht beginnt. Und schließlich von graumelierten Herren in Slippern, denen die Entfernung zur Literatur an der Saccoinnenseite geschrieben steht, mit restaurierten Blondinen am Goldkettchen, Blumensträuße und Plastikledermappen überreicht werden. Es wäre ja schön, wenn der Wettbewerb, bislang eher als Katapult in den Herbstmarkt funktionierendes Standorttrainingslager mit angeschlossener »Häschenschule« für die ganz kleinen, mit messerscharfer Differenzierung tatsächlich zum »Ort des Widerstandes« würde, wie es der diesmal häufig aufbrausende Vorsitzende Robert Schindel mit einem Seitenhieb auf das populistische Konkurrenz-»Spektakel« Literarisches Quartett grantelte. Allerdings nicht, wenn die Jury den Schlaf der Erläuterung schläft.Zwar drängte die wie immer explosive Radisch ihrer verpennten Analyserunde einen berechtigten Streit auf, als sie von der Kritik verlangte, nicht nur den Text nach seinen eigenen Ansprüchen zu messen. Überzog ihr Plädoyer für mehr »Architekturkritik« aber gelegentlich. Verwarf sehr schnell und höchst launisch die stillen Texte und mißliebige Handlungen. »Ich halte aber nichts davon, zu fragen, warum der Mörder nicht danebengeschossen hat« fuhr ihr die Frankfurter Literaturwissenschaftlerin Silvia Bovenschen einmal mit ihrer trockenen Ironie in die Parade. Freilich hatte die Vagheit mancher Text-Helden schwer auf die Juroren abgefärbt. Nicht nur, daß das Abspulen ihrer vorbereiteten Statements zu den Texten, die sie auch diesmal wieder vor dem Wettbewerb gelesen hatten, den steinigen Weg zum kontrovers erkämpften Urteil für die Zuschauer so spannend werden ließ wie die Eingangsdeklarationen auf einem EU-Gipfel. Man hörte statt Urteilen »erste Annäherungen« und wollte den »Text stark machen«. Bei so ausufernder Immanenz und Konzilianz dachte man automatisch an Kapielskis Verdikt vom »hermeneutischen Gewürge« der »Jury-Fuzzis«. Der Novize in diesem Jahr, der Schweizer Autor Dieter Bachmann erzählte alle gerade gelesenen Texte noch einmal eindringlich nach, statt sie zu beurteilen - die personifizierte Krise der Literaturkritik. Eine zu harte Kritik? Zwischem dem »Holzhammer«, den Bovenschen so entschieden ablehnte, und einem Standpunkt ist ein Unterschied.»Ich sinke. Ich schwebe«, fühlt Terézia Moras Ophelia. Literatur und Kritik teilen die Orientierungslosigkeit, in der die Welt schwebt. Wie in der rätselhaften, stark sauerstoffarm konstruierten Geschichte des 1967 geborenen Hamburgers Stefan Beuse Verschlußzeit, für die er den Preis des Landes Kärnten erhielt. In ihr verliert ein Großvater mit der Sprache jeden Draht zur Wirklichkeit. Bis er schließlich nur noch mit Schokoladenfingern malt. Doch auch wenn die Wörter, die er sich für die Dinge der Welt neu erfindet, keiner versteht, kommt für ihn die Rettung doch aus der Sprache. Die steht freilich auf Papier.»Maat geht. Gleichförmig wird die Kulisse an ihm vorbeigezogen« beschreibt Patricia Görg den Gang ihres Museumsbewohners durch die ungeliebte Welt in einer Filmästhetik, der viele junge Literaten frönen. Vom Kino geboren, ins Übergeben verliebt. Mit ihrer in slow motion gefilmten, gefühligen Verzagtheit im Zentrum rasanten Fortkommens glich die meiste der neuen Literatur in diesem Jahr in Klagenfurt dem Schwebezustand im Flugzeug. Und auch da kann man ja nur in Tüten kotzen.
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