Ich will, dass es knallt

Griff nach der Leerstelle In Marc Höpfners Roman "Pumpgun" läuft ein Schüler plötzlich Amok

Ist Marc Höpfner am Attentat von Erfurt schuld? Man wundert sich, dass noch keiner auf diese Idee gekommen ist. Denn der mäßig beachtete Debüt-Roman Pumpgun, den der 1964 geborene Schriftsteller aus München schon im Frühjahr vergangenen Jahres herausgebracht hat, liest sich fast wie die Vorwegnahme des Blutbads in der thüringischen Kleinstadt vom 26. April. Höpfners Erstling enthält alle Zutaten, mit denen die Medien seitdem einem scheinbar unerklärlichen Ereignis auf die Spur kommen wollen: den mundfaulen Außenseiter in der Schule, das Fernsehen, das Jugendlichen der Welt erst den rechteckigen Rahmen gegeben hat, das Jugendzimmer mit High-Tech, die TV-Fernbedienung, die ihm "wie eine Waffe" vorkommt, der urplötzliche show-down auf dem Schulgelände und selbst die "multimediale Auswertung eines Weltklasseteufels" danach.
An intellektuellen Kurzschlüssen mangelte es nicht nach dem Tag von Erfurt. Aber dass die Literatur ein überwältigendes Vorbild für das wirkliche Leben hätte sein können, behauptete keiner. Sofort waren die Medien schuld. Allen voran das Computerspiel Counter-Strike. Diese umstandlose Bezichtigung war auch eine indirekte Aussage über die gesellschaftliche Bedeutung der Literatur. Man betrachtet sie inzwischen eher als Heilmittel gegen Wirklichkeitsverlust. Literatur soll entschleunigen, das kritische Ich bilden und den Bildern etwas entgegensetzen. Die Blumen des Bösen sind digitalisiert, die verbotenen Phantasien sind in die Medien gerutscht.
Auch für Höpfner war die Medienkritik die Initialzündung zum Schreiben, zur Literatur. "Nicht das Fernsehbild ist die Wirklichkeit, sondern die Wirklichkeit ist nur noch ein Fernsehbild" - schon in seiner ersten wissenschaftlichen Hausarbeit auf der Universität 1983 quälte ihn die "Macht der Bilderwelten, die unseren Alltag beherrschen", wie er auf seiner Homepage mitteilt und dieser Tage noch einmal in der FAZ wiederholt hat. Nicht, dass es das nicht gäbe. Aber diese These ist dem Autor so sehr zur fixen Idee geworden, dass er sie in jedem zweiten Satz seines ersten Romans mitteilen will. Der Erzähler des Buches, Alex, ein Schüler, der nach vier Jahren in die kleine Stadt zurückkehrt, um die ungeklärten Hintergründe des Amoklaufs seines Schulkameraden Alfred, genannt Ox, aufzuklären, erinnert sich, wie er damals einmal in der Spielhölle der Kleinstadt auftauchte: "Ich spielte eine Aufwärmrunde, und bald hatte ich die Welt um mich herum vergessen." In diesem Schuppen mit dem bezeichnenden Namen Playking trifft er auch auf Ox: "Er wirkte verändert, ein harmloser Schuljunge, den die Spielcomputer in ihrem Energiefeld zu einer erwachsenen Maschine, zu ihresgleichen geformt hatten. Das Aquariumlicht der Bildschirme malte dabei ernste Schatten auf sein Gesicht, die scharfen Konturen einer Kriegermaske." Wen sollte es bei dieser Prägung wundern, wenn so ein Kerlchen eines Tages auch als Krieger auftritt?
"Schon damals war es das Wissen um die Macht und das Geheimnis der Bilder. Sie konnten dich festlegen und verletzlich machen. Sie machten dich real." Höpfners fast schon ideologische Obsession mit den unentrinnbaren Bildern, die die Bewegungsgesetze vorgeben, überlagert sein eigentliches Talent. In den besseren Teilen seines Romans gelingen ihm dichte Psychogramme der, wie es Thüringens Ministerpräsident Bernhard Vogel nach dem Erfurter Massaker festgestellt hat, "auffällig unauffälligen" jungen Männer. Nicht Fisch, nicht Fleisch, noch Kind, nicht Mann. Alex erinnert sich an seine Schulzeit als an ein "Kaleidoskop in Grau. Langeweile, die von irgendwoher kam und an der ich nichts ändern konnte". Dieser Junge hängt im schwarzen Loch des Kleinbürgeralltags. Normalität fressen Identität leer. Deshalb macht er sich in einer kühlen Nacht, in der er allein zu Hause ist, auf, um sich die Pumpgun zu holen, die er mit einem Schulfreund in einem Versteck des Schulhausmeisters entdeckt hat. Die Erwartung des großen Abenteuers treibt ihn durch die dunkle Stadt. Auf den Schaufensterscheiben sieht er sich plötzlich von "einem seltsamen Glorienschein" umgeben. Und als er den mächtigen Lauf der Waffe unter einer Plane spürt, überkommt ihn eine ungeheure Kraft, die ihn aufrichtet. Die Leere des ereignislosen Alltags ist gefüllt. "Was für ein Gefühl, diese Waffe zu besitzen, während alles andere beim alten war" denkt er sich insgeheim, als er beim Frühstück seinen Eltern gegenübersitzt. Alex will gar nicht schießen, niemanden umbringen. Die Waffe ist für ihn die Ermächtigung zum Außergewöhnlichen, die Lizenz zum Ich. Doch eines Tages beobachtet ihn Ox, wie er sie aus einem Komposthaufen im Garten klaubt ...
In Höpfners Roman ist die ganze paradoxe Szenerie vom Identitätsinferno in der Kleinstadtidylle so verblüffend realistisch beschrieben, als ob man gerade den Spiegel-Bericht zu Robert Steinhäusers Leben in Erfurt gelesen hätte. Wenn er sich doch damit beschieden hätte, diese Untiefen des allgegenwärtigen Scheinfriedens, dem notdürftig überdeckten Ausnahmezustand auszuloten. Doch er muss sich unbedingt in die Metapher von der medialen Endlosschleife verwickeln, in der sich alle fangen. Die Rachephantasien von Alex, der dem Spielhöllenbesitzer Pauly den Garaus machen will, weil er Ox zur Tat angestiftet hat, schwanken zwischen einem schlechten Bonnie-and-Clyde-Remake und einer Billigvariante des neueren New-York-Thrillers mit Selbstjustiz im schwarzen Ledermantel. Und bei einem Protagonisten, dem der Autor die Erkenntnis in den Mund legt: "In der zersprungenen Welt sprechen Bilder eine neue Sprache, ein eigenes Alphabet. Sie können nicht mehr gelöscht werden" wundert es einen natürlich nicht, wenn dessen Rächer-Delirium schließlich in dem Ausruf gipfelt: "Ich will, dass es knallt". Beim show-down weiß man nicht mehr, ob das blutige Ende in der Tiefgarage ein Filmabspann ist oder tatsächlich die Realität. Höpfner wagt mehr als jüngere Erzähler sonst: Er will partout die Linearität aufsprengen. Doch abgesehen davon, dass er die Literatur hier den Bildgesetzen unterwirft - trotz zahlreicher Wechsel zwischen Perspektiven und Zeiten, Erinnerungsfetzen und Gegenwartsdialogen gelingt ihm nur der Nachweis, dass Literatur der Simultaneität der digitalen Medien unterlegen ist.
Für das Massaker im Schulhof mit acht Toten gibt bei Höpfner kein bestimmtes Computerspiel den Ausschlag. Sondern der besagte Dealer Pauly. Er sitzt neben Ox auf dem Schulturm und flüstert ihm ständig "Leg ihn um" ins Ohr, als Alex auf den Turm kommt, und ihn am Ende zum Aufgeben bringt. Es bedarf nur einer Einflüsterung von außen, um aus dem Klassentrottel den Killer zu machen, der den Abzugshahn drückt. Mit dem Bild des Willenlosen nimmt Höpfner dem Individuum etwas von seiner Verantwortung. In Wirklichkeit löst sich in diesem Moment ein viel komplizierteres Knäuel aus freiwillig und unbewusst. Auch Robert Steinhäuser begann seinen Amoklauf in Erfurt erst, als sich die Schlinge des geheim gehaltenen Schulabgangs eng und enger zu ziehen begann. Erst wenn dieser Punkt erreicht ist, greift Mann zum letzten verbliebenen Werkzeug der Identität. Das kann, es muss aber nicht eine Waffe sein. Die Schrecksekunde des Umschlags, wo das soziale Dilemma nur noch mit den Vor-Bildern auszulöschen zu sein scheint, hätte Höpfner noch genauer verfolgen sollen. Stattdessen bedienen sein Roman samt dem in diesem Jahr nachträglich draufgeklebten Etikett "Generation Pumpgun" das Klischee von dem großen Rattenfänger Hassindustrie. Doch auch wenn Höpfner zu stark seinen Automatismus "vom Medium zur Gewalt" abspult. Mit seinem Bild von dem jungen Mann als Leerstelle, in den sich das fremde Programm einschreibt, zielt er auf den blinden Fleck der Souveränität, der noch unter dem selbstsichersten Ich-Gehäuse sitzt. Und bei dem man sich nie sicher sein kann, welche Wirkung irgendwann einmal entfaltet, was man alles so auf sich heruntergeladen hat.

Marc Höpfner: Pumpgun. Frankfurter Verlagsanstalt. Frankfurt am Main 2001, 245 S., 19,50 EUR


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