Dieser Roman ist zu lang. Und er ist zu kurz. Er ist zu lang, weil man schon auf den ersten 76 Seiten erkennt, was für ein großartiger Autor hier schreibt. Schon das erste Kapitel, in dem sein Held nur eingeführt wird, hätte ausgereicht, um es als fertiges Buch betäubt zur Seite zu legen. Und der Roman ist zu kurz, weil man sich beim Lesen immer wieder wünscht, es möchte ewig so weitergehen. Einen freien Tag und einen McEwan. Viel mehr braucht man im Leben nicht. Ein Glücksgefühl wie dieses eint den Leser von Saturday, dem neuesten Roman des 1948 geborenen britischen Schriftstellers Ian McEwan, mit dessen Hauptfigur. Das ist ein wenig sonderbar. Denn nicht für jeden europäischen Durchschnittsleser ist die Perspektive eines Londoner Neurochirurgen automatisch identifikationsfähig. Doch so wie den 48jährigen Henry Perowne an einem Samstag im Februar des Jahres 2003 eine "anhaltende, alles verzerrende Euphorie" überkommt, überschwemmen den Leser ästhetische Glücksgefühle. Warum?
Bei Perowne ist es klar. In der Woche steckt die Bourgeoisie im Korsett von Beruf und Status. Der titelgebende Samstag ist dann der Tag der Selbstbefreiung. Da kann man sich endlich einmal ein paar Stunden in verschlissener Trainingshose gehen lassen. Vormittags will der Mann zum Sport, danach sind ein paar Luxuseinkäufe angesagt. Henry erwartet Gäste. Seinen mehr respektierten als geliebten Schwiegervater, einen exzentrischen greisen Dichter mit Sitz in der französischen Provence, und seine beiden Kinder, den 19-jährigen Theo, einen begabten Bluesmusiker, und seine Tochter Daisy, eine nicht minder begabte Lyrik-Debütantin mit Sitz in Paris. Henry freut sich auf ein Abendessen im Kreis der Familie in seinem Haus am Fitzroy Square. Er ist kein Platzhirsch der oberen Zehntausend, eher ein vorsichtiger Mensch, der seiner Frau Rosalind seit mehr als 20 Jahren treu ist. Aber er ist ein anerkannter Fachmann, er hat Grund, mit sich zufrieden zu sein: "Mit ihm ist noch zu rechnen", sagt er sich morgens vor dem Spiegel. An diesem Samstag spürt er förmlich sein ganzes Glück.
Der Leser ist aus anderen Gründen euphorisiert. Sein Glück löst die Erzählkunst McEwans aus. Ob es der Einblick in die Psyche des Hirn-Chirurgen ist, der im Beruf gelegentlich das "Besitzdenken eines Gottes" an den Tag legt, privat aber eher ein emotional gehemmter Mensch ist; ob er einen Zweikampf beim Squash beschreibt oder sich in eine philosophische Grübelei über den zivilisatorischen Luxus der Dusche verliert - McEwan ködert mit dem Drive des Thriller-Autors, scannt dabei aber die Menschen, den Alltag und die Dingwelt, die ihn bevölkert, so nebenbei wie hartnäckig auf ihre verborgenen Untertöne, Hintergedanken und emotionalen Nebengeräusche, dass es einem kalt den Rücken herunter läuft vor Welterkenntnis. Wenn es je so etwas wie den "relevanten Realismus" gegeben hat, den kürzlich deutsche Schriftsteller forderten, bei McEwan ist er zu finden. Nicht auf die berüchtigten "gesellschaftlichen Probleme" verkürzt, wie hierzulande oft propagiert, sondern in einer peinigenden Liebe zu den irritierenden Bedeutungen hinter den scheinbar unwichtigen Details des Lebens. McEwan erzählt, ganz konventionell, aber er kann es so virtuos und facettenreich wie kaum ein Zweiter.
Doch wie es mit emotionalen Höhenräuschen so ist: Euphorie kommt vor dem Fall. McEwan braucht dieses übersteigerte, "kämpferische Glücksgefühl" seines Protagonisten als Kontrastfolie, um die Gefährdungen dieses Glücks zu zeigen. Mit einer Schramme an seinem Mercedes bei einem kleinen Verkehrsunfall in einer Londoner Seitenstraße fängt der Samstag schon mal schlecht an. "Etwas Einmaliges und Unersetzliches ... ist unwiderruflich dahin", sinniert der Realist und Antiliterat Perowne angesichts des schnöden Kratzers. Und über den plötzlichen Aggressionsschub beim Squash-Duell mit seinem Kollegen Jay Strauss bis zu dem unerwarteten Kampf auf Leben und Tod am Abend in seinem Heim steigert sich dieses kleine Unglück dann zu einem apokalyptischen Szenario.
Es macht die Meisterschaft von McEwans literarischem Können aus, dass die große und die kleine Apokalypse zwar symbolisch, aber doch unaufdringlich korrespondieren. Hier übersteigt der Realist fast unmerklich sein Genre. "London wartete auf die Bomben", heißt es an einer Stelle des Romans. Man ist geneigt, McEwan für einen Propheten des realen Unglücks dieser Tage zu halten. Doch Saturday ist nur insofern ein Roman über den Terror, als er die Angst davor zeigt. Als Perowne an jenem Samstag zu früh aufwacht, sieht er am Himmel ein Frachtflugzeug abstürzen, das es gerade noch auf den Flughafen Heathrow schafft. Der feurige Schweif am morgendlichen Himmel, die geliebte Ehefrau liegt schlafend neben ihm im Bett, ruft die Bilder der New Yorker Anschläge zwei Jahre zuvor auf. Ein Hauch von Apokalypse liegt seither über der friedlichen Normalität. Den bedrohlichen Zustand der Welt nimmt Perowne aber immer aus einem Sicherheitsabstand wahr. Jene Viertelmillion oder mehr Menschen, die just an diesem Samstag gegen den Irak-Krieg von Tony Blair und George Bush auf die Straße gehen, die größte Friedensdemonstration der englischen Geschichte, sieht Perowne entweder im Fernsehen oder nur als klitzekleinen Ausschnitt an jener Seitenstraße vorbeiziehen, durch die er ihr zum Sport entkommen will.
Perowne zeigt alle Phobien der britischen Bourgeoisie. Er hat etwas gegen Burkas, das kommunistische China und das verdächtige Unisono der Demonstranten. Und der ominöse Baxter, mit dem er morgens auf der University-Street einen Zusammenprall hat, kommt ihm später vor wie ein "Primatenmaul". Am wohlsten fühlt er sich in "der abgeschotteten Welt" seiner Station im Krankenhaus, hinter der "bürgerlichen Befestigungsanlage" seiner Wohnung oder wenn die Zentralverriegelung seines Luxusautos zuschnappt. Und McEwan unterlegt diesem Anhänger von Charles Darwins Evolutionstheorie, der immer wieder über den Zufall der Gene grübelt, einen Hauch von kritischem Rationalismus eines bekannten Wahl-Engländers: Sir Karl Raimund Popper. Utopien hält Perowne für gefährlich. Notwendig erscheint ihm ein Reformismus der kleinen Schritte, eine gelungene Müllentsorgung beispielsweise. Politik und Ästhetik bleiben säuberlich getrennt. Nur der Ästhetik billigt er den utopischen Entwurf zu. Die Politik sieht Perowne für das "Königreich Christi auf Erden" über Leichen gehen. In der Musik, das meint er zu spüren, während er seinem Sohn Theo bei einer Probe zuhört, bleibt dieser "Traum einer Gemeinschaft", jene "kohärente Welt, in der endlich alles zusammenpasst" ungefährlich.
Perowne versucht seine bürgerliche Selbstgewissheit wieder zu gewinnen, indem er sich einredet, dass die Klimaveränderung, die Globalisierung und der islamische Terrorismus Krisen wie jede andere sein werden. Und weiß doch, dass sich das Leben in ihrem Schatten grundlegend geändert hat. Die geliebte Familie wird ihm zum panic room der Intimität. Der Schrecken, der so plötzlich in diese Zufluchtszone dringt, ist das Signal für ihren jederzeit möglichen Verlust. Mit Saturday ist Ian McEwan ein beeindruckendes Bild einer verunsicherten Mittelschichtspsyche gelungen. Wenn wir auch sonst wenig mit ihr gemeinsam haben. Ihre Angst teilen wir.
Nichts wäre jedoch ungenauer als dieses angeknackste Nervenkostüm vorschnell zu einem universalen Humanismus zu stilisieren, der die aus den Fugen geratene Welt rettet. Mag auch McEwans Held am Abend dieses dramatischen Samstags noch so ergreifend über das zerbrechliche, endliche Leben nachdenken, in dem "alles nur geborgt" ist. Obwohl erschüttert, atmet hier doch ein Bürger durch, der sich und sein Glücksgefühl noch einmal heil davon gekommen sieht. Perowne sieht sich selbst als fügsamen Vertreter dieser Spezies, "der zusieht, wie der Leviathan mächtiger wird, während er selbst in seinem Schatten Schutz sucht". Ob der rationale Wissenschaftler aus seiner überraschenden Erfahrung, dass die Kunst in Gestalt der Lyrik am Ende den Schrecken gebannt hat und nicht etwa die Polizei, mehr macht als nur mehr Bücher zu lesen, wird man sehen. Im nächsten McEwan?
Ian McEwan: Saturday. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Diogenes, Zürich 2005, 388 S., 19,90 EUR
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