Inszenierung

VOM PROTEST ZUM AUSDRUCK Die ganze Popgeschichte seit den Fünfzigern in einem Band

Die einen waren enttäuscht. Die anderen hatten schon immer gewusst, dass sie da mal enden. Als 1974 das Rolling Stones Album It`s only rock`n roll, but I like it herauskam, wurde der LP-Titel programmatisch gelesen. Fast zeitgleich mit der europäischen »Tendenzwende» hatten sich die underdogs, die auf Beggars Banquet 1968 noch die working class heroes besungen hatten, dem Glam ergeben. Gemessenen Schritts wandelten sie auf dem LP-Cover die Marmorstufen einer Hall of Fame herunter, während ihnen Ehrenmädchen die Blumen streuten und Schalmeien von Säulenreihen geblasen wurden. Von den authentischen Street Fighting Men zu den selbstironischen Halbgöttern des Rock n`Roll - wieder einmal wurde der Traum von einer ästhetischen Revolte beerdigt. War halt alles nur Musik!

Glaubt man Peter Kemper, fand der Abschied von der politischen Revolte bei den Stones schon 1969 statt. Für ihn kündigte sich in dem Album Let it bleed mit seiner Mischung aus Zügellosigkeit und Dekadenz der Rückzug in die Privatheit an. Das ist nicht die einzige interessante Deutung, die man in dem Sampler zur Popgeschichte findet. Auch wenn die Autoren mitunter einem Vollständigkeitswahn verfallen - gemessen an der Fanzine-Schreibe, die den kritischen Popjournalismus bis auf wenige Ausnahmen abzulösen beginnt, bieten die Beiträge des Funkkollegs Jugendkultur und Popmusik des Hessischen Rundfunks 1998/99 einen ungewöhnlich klugen und lesbaren Überblick über Pop von Muddy Waters bis zur ersten Retortenband M/A/R/R/S. Wenn der Stoff, aus dem so hautnah Identität zuwächst, in ein Geschichtsbuch wandert, in dem man Jahreszahlen wie das Dylan-Schisma beim Folk-Festival 1965 im amerikanischen Newport, als der Folkbarde zum Elektrosound konvertierte, nachschlagen kann wie die drei Punischen Kriege - muss man da nicht wehmütig werden? Das Beste an dem Band ist aber, dass er genau darauf verzichtet, wenn er auf die Zeit zurückblickt, als der Rock noch schwitzte.

Die Autoren erhellen zwar die Musikalisch-Industriellen Komplexe in der globalisierten Kulturökonomie samt ihrer Agenten VIVA und MTV. Aber sie betrachten Pop auch nicht nur als die übliche Klage von der Korrumpierung durch den Markt, sondern als unabschliessbares, diskursives »Streitgeschäft«. Für sie ist Pop eine Kette kultureller Zellteilungen, bei der kein Ende abzusehen ist. Als sich der Punk mit seiner Noise Culture vom selbstzufrieden verfetteten Rock a la Stones sezessionierte, wollte er seine ursprünglichen Impulse wieder hervorkitzeln. Bryan Ferry seine rechtschaffene Antiästhetik mit Style herausfordern. Noch wird der immer kommerziellere Techno nicht durch eine neue Explosion musikalischer Subkultur herausgefordert. Aber immer kamen die Anstösse zum Neuanfang von unten. Und haben jene postmoderne »Koexistenz der Widersprüche» geschaffen, die man heute geniessen kann.

Gralshütern von Authentizität und Originalität gilt nicht nur das, sondern auch die coole Sample-Technik von House und Techno als Kulturgräuel. Wenn Günter Amendt in seinem erstklassigen Beitrag über Bob Dylan den Mann mit der Gitarre als Menschen lobt, der seinen politischen und musikalischen Idealen treu geblieben ist, plädiert er damit für eine Identität von Künstler und Werk, die im Zeitalter der digitalen Archive ehrenwert, aber als ästhetische Norm haltlos geworden ist. Selbst der körperlich aufbegehrende Ghetto- Rapper samplet. Und ist damit, dass der Drum`n Bass DJ Krust über 50 Jahre Pop wie Material verfügt, nicht einer oft als ahistorisch abgetanen Massenkultur ein Geschichtsfundus zugewachsen? Krusts Dancenights geraten ihm, wie Thomas Langhoff schreibt, mitunter zu richtigem »Geschichtsunterricht«. Einschneidender ist ein anderer Paradigmenwechsel. Die hübsche MTV-Start-Hymne Video killed the radio star der Buggles hatte 1981 mancher ahnungsloser mitgesungen, als sie gemeint war. Die visuelle Präsenz der Stars in den Musikclips ist heute genauso wichtig wie die Musik selbst. Hier kann man die Verwandlung des Pop vom Protest zum Ausdruck am deutlichsten sehen. Für Fan und Star ist Pop eine Inszenierungsstrategie geworden. Das kann man beklagen. Doch noch in der antidiskursivsten Lifestyle-Revolte schlummert ein Rest jener Chance zur »Selbstermächtigung»(Thomas Langhoff), die das politische Potenzial von Pop womöglich mehr ausmacht als politisch korrekte Inhalte. Auch sich Inszenieren ist eine Kunst. And we like it.

»alles so schön bunt hier«. Die Geschichte der Popkultur von den Fünfzigern bis heute. Herausgegeben von Peter Kemper, Thomas Langhoff und Ulrich Sonnenschein. Mit 31 Abbildungen. Verlag Philipp Reclam, Stuttgart 1999, 371 S., 49, 80 DM

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