Frieden. Frieden. Wer etwas über die Absurdität gesellschaftlicher Rituale wissen will, für den ist Heinrich Bölls Erzählung Nicht nur zur Weihnachtszeit noch immer erste Wahl. In der 1951 erstmals erschienenen Geschichte des Literaturnobelpreisträgers, der in dieser Woche neunzig Jahre alt geworden wäre, ist Tante Milla das Weihnachtsfest, das sie nach dem 2. Weltkrieg endlich wieder feiern kann, so sehr ans Herz gewachsen, dass sie nie mehr darauf verzichten möchte. Als die Familie nach Dreikönig den Baum entsorgen will, verfällt sie in einen Schreikrampf. Der nur dadurch abgewendet werden kann, dass jeden Abend neu Weihnachten gefeiert wird. Jahrelang zieht sich das hin. Die meisten Familienmitglieder sind längst durch Wachspuppen ersetzt. Nur von der Tannenbaumspitze hing noch immer derselbe "silbrig gekleidete rotwangige Engel, der in bestimmten Abständen seine Lippen voneinander hob und Frieden flüsterte, Frieden".
Wie sehr der von Böll so hinreißend beschriebene Terror besonders jüngeren Leuten in den Knochen sitzt, kann man der gerade erschienenen Anthologie The Gold Collection entnehmen. Für den von den Lektoren Karsten Kredel und Jörn Morisse, letzterer in Personalunion Geschäftsführer der Zentralen Intelligenz-Agentur in Berlin, pünktlich zum Weihnachtsgeschäft herausgegebenen Band haben zwanzig jüngere deutsche Autoren im Alter zwischen dreißig und vierzig Jahren Neue Weihnachtsgeschichten geschrieben, wie es im Untertitel heißt. Und siehe: "Es gab Jahre, da hat mich dieser sture Ablauf zur Verzweiflung gebracht" erinnert sich die Berliner Autorin Almut Klotz an ihre Weihnachtszeit. Der Frankfurter Autor Andreas Maier, 2000 durch seinen Roman Wäldchestag bekannt geworden, legt nach: Für ihn sei Weihnachten immer eine Art "Familienroutine" gewesen, gleichbedeutend mit "Sozialkontrolle", schreibt in einem eher essayistischen Beitrag. Alle Versuche, das Fest etwas weniger wichtig, etwas weniger heilig zu nehmen, seien gescheitert. Wie soll man also umgehen mit dem unüberwindlichen Brocken in der Festtagslandschaft? Resigniert stellt Maier fest: "Weitermachen wie bisher. Jedes Jahr die gleiche Prozedur ... jedes Jahr fast hundertprozentig an Weihnachten scheitern".
Das ist nun aber auch wieder eine alarmierende Aussicht. Denn bekanntlich ist Weihnachten nicht nur ein sinnentleertes Ritual, wo die immer gleichen Geschenke ausgepackt, die immer gleichen Witze gemacht werden. Es ist auch der Showdown der bürgerlichen Familie, in dem alle, das Jahr über latent gehaltenen Konflikte dieser brisanten Konfliktkonstellation kulminieren. In Rainer Merkels Erzählung Geister spitzt sich die Krise zwischen einem zynischem Vater, der gedemütigten Mutter, ihrem genervtem Sohn und einem betrunkenen Handwerker immer mehr zu einer "kleinen innerfamiliären Tragödie" zu. Zwar lässt es Merkel nicht zum Äußersten kommen. Doch als der Vater am nächsten Morgen aus dem Schlafzimmer nach unten kommt und mit scheinheiliger Stimme fragt: "Habt ihr gut geschlafen?" ist dieser verlogene Versuch, die Konflikte unter den Teppich zu kehren, brutaler als das finale Gemetzel: Familie - das ist der Schrecken ohne Ende.
Kein Wunder, dass in den Geschichten jeder beneidet wird, der es irgendwie geschafft hat "dem Familienterror entflohen" zu sein. Doch wer Weihnachten deswegen fürchtet und diesen potentiellen Kriegsschauplatz bewusst verlässt, macht die seltsame Erfahrung, sich selbst kein eigener Mittelpunkt sein zu können: "Weihnachten, das hieß Familie, und die Vorstellung, einander an diesem Fest die Familie zu ersetzen, machte uns verlegen" resümmiert die Erzählerin in Dorle Trachternachs Erzählung Pisco die Stimmung mit ihrem Freund am Strand im Süden. So scheint gerade in der demonstrativen Ignoranz, mit der die meisten Autoren ihre Protagonisten diesem Ritual begegnen lassen, etwas von der Wirkmächtigkeit dieses scheinbar so überholten Ereignisses auf.
Weihnachten ist eben wie ein Magnet: "Es wird ein Tag wie jeder andere" hatte sich der Protagonist von Stefan Rehbergers Geschichte Wunschkonzert eigentlich vorgenommen, der Weihnachten einmal "nicht bei den Eltern feiern" will. Doch je normaler, je alltäglicher er tut in seiner Berliner Studentenbude, desto absurder kommt es ihm vor: "es führte nur dazu, dass ich traurig wurde, mit so einem Gesicht alleine in Berlin zu sitzen. An Heiligabend". Am Ende empört er sich, dass der Nachbar, dem er vorschlagen will, gemeinsam ein Glas zu trinken, die Tür nicht öffnet: "Weihnachten, das Fest der Liebe, dachte ich entrüstet". Selbst wer dieses Fest umgeht, kommt darin um. Und sei es aus Einsamkeit.
Anthologien sind so eine Sache. Die meist heterogene Qualität der Beiträge steigert selten das Lesevergnügen. Da macht die Gold Collection, mit der die Herausgeber an ihren ähnlich gestrickten Vorjahreserfolg Driving Home anknüpfen wollen, leider keine Ausnahme. Der Berliner Autor Jochen Schmidt gibt ein Beispiel eher faden Humors, wenn er Dirk von Lotzow, den sagenumwobenen Sänger der deutschen Polit-Pop-Band Tocotronic, in einer kleinen Satire Weihnachten in sein altes Kinderzimmer nach Hause schickt. Und um wirklich als der Pop-Sampler durchzugehen, als der der Erzählungsband zielgruppensicher aufgemacht ist, fehlt es doch vielen seiner Titel an dem für dieses Genre charakteristischem Tempo und der Experimentierlust. Es sei denn, man hält schon die Nennung von Songtiteln für den Ausweis literarischer Innovation.
Das größte Vergnügen bereitet es dem Leser noch, die Versuche zu beobachten, den schier übermächtigen Mythos irgendwie zu knacken. Am raffiniersten stellt sich dabei der Berliner Hardcore-Agnostiker Raul Zelik an. In seiner bemerkenswerten Erzählung Weihnachten - eine Ostergeschichte ist das Fest für den jungen Deutschen Alex nur ein besonders günstiger Moment, um aus der Landkommune La Esperanza (!) in einem unbekannten Land in Südamerika zu türmen. Denn an Weihnachten sind die Grenzer nicht ganz so hartgesotten. Wenn er Alex und den Chef der Siedlung darüber reden lässt, wie Weihnachten als Fest der Auferstehung - resurreción - mit dem politischen Aufstand - insurreción - zusammenhängen, demonstriert Zelik, wie man mit dem Fundus an Symbolik und Metaphorik, der Weihnachten darstellt, spielen, es nutzen und umwerten kann. Auffällig, dass sich die wenigsten Autoren an dieser ästhetisch reizvollen Aufgabe versuchen und es mit mehr oder minder coolen Distanzierungsgesten bewenden lassen. Zugleich zeigt Zeliks Geschichte auch: Wie kritisch oder wie beiläufig man sich dem Mythos auch nähert. Weihnachten bleibt so etwas wie eine spirituelle Restgröße, die sich einfach nicht profanisieren lässt.
The Gold CollectionNeue Weihnachtsgeschichten. Hrsg. Von Karsten Kredel und Jörn Morisse. Suhrkamp-Taschenbuch, Frankfurt am Main 2007, 175 S., 7 EUR
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