Wer war zuerst da, Rainald Goetz oder Benjamin von Stuckrad-Barre? Auf diese ungeklärte Frage der Literaturanthropologie hatte die Wissenschaft bislang keine Antwort. Noch tappen die Experten im Dunkel. Ein DFG-Sonderforschungsbereich zum Thema "Intertextualität und geheime Netzwerke in der Pop-Literatur der ersten Hälfte der 90er Jahre" hadert noch mit seinem Abschlussbericht. Da erscheint nun Benjamin von Stuckrad-Barres (BvS-B) neues Buch und lüftet einen Teppichzipfel über dem Geheimnis. "Den Remix-Gedanken erstmals notiert, Fax an Rainald, vielleicht ist er genauso begeistert wie ich." heisst es auf Seite 135. Ist unser sagenumwobener Stucki also doch nur ein später Epigone des großen Goetz, des Fitzcarraldo des Pop?
Festwertspeicher der Kontrollgesellschaft. Remix 2 klingt super anspruchsvoll, irgendwie schwer nach Ulrich Beck und einer dieser Soziologien der Zweiten Moderne. Doch der vor Assoziationen nur so knisternde Titel entpuppt sich bestenfalls als blendende Leuchtreklame über einem lauwarmen Relaunch. Da hat jemand ein paar Texte und Reportagen zusammen gekehrt: rare recordings und allerlei verstreute Texte, mit denen man auch noch das letzte Segment des BvS-B-Markt abräumen kann.
Ein Buch mit doppeltem deja-vu-Effekt: Nicht nur, weil man unter den Reportagen und Collagen auf alte Bekannte trifft. Sondern auch, weil Remix 2 jenen Band wiederholt, in dem BvB-S 1999 schon einmal allerlei journalitische Hinterlassenschaften nutz- und gewinnbringend unters Fanvolk gebracht hat: Remix. Ein Vorteil des neuen Bandes: Wer bisher noch keinen der anderen Bände des 1975 in Bremen geboren Autors (Soloalbum, 1998; livealbum 1999; Deutsches Theater, 2001) gelesen, aber um so mehr von einem Kultfuzzi gleichen Namens gehört hat, der mehr mit einer Frau Engelke rumgemacht hat als mit Papier, bekommt hier das Erfolgsgeheimnis dieses besonders ätzenden Gründungsmitglieds des popkulturellen Quintetts Tristesse Royale in einem Band.
Das Motiv: der Hass auf den deutschen Durchschnitt von den Gartennazis um die Ecke bis Reinhard Mey, der semantische Totschlag an dem Musikzeitalter des Rock. Den Sound: Das nölige Parlando, der gelegentlich etwas überbordende Hang zum Neologismus a la "Unkaputtbarkeit" und die befreiende Respektlosigkeit. Den Stil: Die ätzende Ironie gegen alles und jeden, selbst gegen sich selbst. Dieser Autor liefert böse Merksätze, die man sich einrahmen möchte: "Strunz (der Bild-Chef, IA) hat das Prinzip Schröder verinnerlicht, indem er Lappalien zur "Chefsache" erklärt und mit populistischen Symbolhandlungen für Ruhe sorgt." Doch spätestens nach zweihundert Seiten stellt sich ein ähnliches Völlegefühl der Redundanz ein, das man verspürt wenn man eine Riesentüte Saure Pommes auf einmal aufzuessen versucht. Nach der Hälfte der Tüte ahnt man, wie der Rest schmeckt.
Mal bisschen blättern heisst es auf Seite 13. Spätestens bei diesem Ausdruck, den man aus Rainald Goetz` Rave im Ohr hat, beschleicht einen der Verdacht, dass RG und BvS-B womöglich ein und derselbe Autor sind. Aber nicht nur diese Vorliebe zum unverbindlichen Ungefähr macht BvS-B zu einem Wiedergänger des in in letzter Zeit etwas ruhig gewordenen Alterspräsidenten des Techno. Barre legt mit seinen Reportagen und Textcollagen tiefe Sonden in den Alltag, windet sich mit viel literarischer Empathie ins deutsche Spießerbewusstsein. Er wird sehr persönlich, wenn er seine Jugend beschreibt: Das Scheitern im Musikunterricht, der Wechsel vom Fußball zum Pop. Er schreibt Graffitisprüche von Klotüren, Bushaltestellen und den Besucherbüchern deutscher Museen ab. Hier manifestiert sich die aufregende Hinwendung eines jungen deutschen Autors zum durchschnittlichen Lebensalltag, eine schnoddrige Absage an alles Gekünstelte und raffiniert Fabrizierte, das auch schon Goetzens Internet-Tagebuch Abfall für alle so interessant gemacht hat.
Der seltsame Widerspruch bei einem der vielen Ex-Lieblinge von FAZ-Chef Frank Schirrmacher ist jedoch: Trotz dieses Interesses am Gewöhnlichen kommt dieser Mann nicht aus der Endlosschleife seiner Glam-Szene heraus, die er zu Recht "Quatschbranche" nennt. Fahren Sie mal ein Wochenende nach Zürich und hören Sie sich nach Stuckrad-Barre um: Danach können Sie wahlweise ein Sonderheft der Gala oder Info-Bulletins der Deutschen Hauptstelle für Suchtgefahren vollschreiben.
Doch nicht nur in diesem selbstreferentiellen Vakuum mit Neidung zu weißen Pulvern, auch in der Kunst bleibt der Realitätssüchtige stecken. Remix 2 zeigt die Grenzen jener Avantgarde der Jäger, Sammler und Seiten-Vollschwaller, der Pop-Archivare der Gegenwart. Der akribische Protokollant wird eben nicht zum Soziologen: Er speichert alles nur ab. Das aufregende Material, das BvS-B sichtet, bleibt nervtötend ungeformt. Der absetzungsbedürftige Abkömmling des sozialliberalen Milieus der 80er Jahre gibt sich gern locker als Anti-Adornit, der nicht richtet, sondern nur beschreibt: "Gibt es ein richtiges Lesen im falschen Zelt" fragt er boshaft zu Beginn des Textes Rockliteratur, in dem er eine Lesung beschreibt. Dabei schreit die merkwürdige Mischung aus Banalität und Extremismus, die sich in der deutschen Seele manifestiert, geradezu nach einer Deutung. Wie nahe der Interpret BvS-B der Wahrheit manchmal kommen kann, hat er in der Reportage über Herbert Grönemeyer bewiesen. Könnte es sein, dass sich hier jemand auf seinen frühen Lorbeeren ausruht?
Was würden wir diesem Typ ins Gästebuch schreiben? "Lieber Benni: Manche mögen dich für einen arroganten Szeneschnösel halten, größenwahnsinnig, narzistisch gestört, vom Betrieb gefickt oder sonst was. Stimmt wahrscheinlich auch alles. Ich habe mich jedenfalls bei deinem neuen Buch nicht schlecht amüsiert. Die Texternte hätte vielleicht noch `ne zweite Kaltpressung vertragen können. Aber für mich steht fest: Du bist so ein guter Journalist und kannst gnadenlos gut beobachten. Mach doch da endlich mal n bisschen mehr draus!"
Benjamin von Stuckrad-Barre: Festwertspeicher der Kontrollgesellschaft. Remix 2. Kiepenheuer Köln 2004, 486 S., 12,90 EUR
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