Kommen Sie doch zu uns!

Medientagebuch Zuhören im Internet: Der ORF will aus dem Klagenfurter Literatur-Wettbewerb eine Talkshow machen

War der Literaturbetrieb dieses Jahr wirklich in Klagenfurt? Wäre man nicht schon selbst dabei gewesen, rituelles Reinigungsbad im Wörthersee inklusive, es beschliche einen ein unheimlicher Verdacht. Sind am Ende die Bilder rot ausgeleuchteter Zuschauergesichter, die im düsteren Sendesaal des Österreichischen Rundfunks in Klagenfurt auf engen Stuhlreihen angestrengt auf einen lesenden Autor starren, doch nur die Staffage einer großen Simulation? Einer, die vergessen machen soll, dass die gute alte Literatur schon längst vom World Wide Netz verschluckt ist?

Die Klage über die Ablösung des Textes durch das Bild begleitet die "Tage der deutschsprachigen Literatur" seit Anbeginn. Besonders überzeugend war sie nie. Schon als Marcel Reich-Ranicki 1977 zum ersten Lesemarathon in die Klagenfurter Stadthalle lud, standen Kameras vor der Jurorenbank. Ist die Literatur seitdem untergegangen? Keineswegs. Die dicken Kabel von damals sind zwar digitalen Schaltkreisen gewichen, selbst abstimmen müssen die Juroren nun via Touch-Pad. Trotzdem hatte man nie das Gefühl, einem sterbenden Medium das letzte Geleit zu geben. Und die Tatsache, dass jetzt alle Texte pünktlich zu Beginn jeder Lesung in sieben europäischen Sprachen von tschechisch bis spanisch im Netz stehen, wird man nicht als Beihilfe zum medialen Mord an der (deutschsprachigen) Literatur werten können, sondern eher als ihre weiterverbreitende Wiederbelebung.

Die immens aufgerüstete Website, mit der der ORF den Wettbewerb nun vollends netztauglich machen will, könnte manchem Zuschauer freilich das Gefühl geben, das Live-Ereignis sei überflüssig und es ließe sich in ihr verschwinden wie in Second Life. Von der Eröffnungssitzung über die lustigen Videoporträts der Autoren bis zur Diskussion der Juroren kann man dieses Ereignis nicht nur live verfolgen, sondern auch zu jeder Tages- und Nachtzeit aufrufen, nachinszenieren oder neu zusammensetzen. Womöglich kann man sich im nächsten Jahr schon mit fiktiven Identitäten einloggen und mitmischen im Literaturmonopoly.

Wer Klagenfurt als medialen Selbstversuch zu Hause auf dem Sofa erprobt, freut sich über dessen unschätzbare Vorteile. Er kann, unbeobachtet von der Kärntner und der europäischen Öffentlichkeit, in der Nase bohren. Der wacklige, immer wieder unterbrochene Livestream, in dem man die Lesungen im Internet verfolgen kann, konterkariert das Theater aufs Angenehmste. Der biederen Realismus, mit dem die Autoren da die Zuhörer einschläferten, verwandelt sich unversehens in eine avantgardistische Collage. Der Nachteil des Ganzen: Die Literatur diffundiert ins Lautliche. Selbst wer auf dem Computer neben den Bildern ein Fenster öffnet, um den Text parallel tatsächlich zu lesen, dämmert schnell weg und verliert den Faden. Schwer zu sagen, ob Tilman Rammstedts Siegergeschichte Der Kaiser von China wirklich ein guter Text war oder nicht. Zumindest hörte sich der Vortrag des gut gelaunten Autors recht lustig an.

Wenn der Literatur eine Gefahr aus Klagenfurt droht, dann nicht vom Bildschirm oder aus der Steckdose. Sondern von dem Virus, der sich "Telepräsenz" nennt. Dass der Wettbewerb um einen Tag gekürzt wurde, mochte noch als Straffung durchgehen. Wohin die Formatierungsreise aber gehen soll, schwante einem, als der neue Moderator zum ersten Mal "Kommen Sie doch zu uns" rief. Genau vierzehn Mal eilte Dieter Moor beflissen auf die am Rande platzierten Autoren zu, um sie unter kellnerartigem Dienern in die Kritikerrunde zu kommodieren. Der "Bewerb" soll das hartnäckig an ihm haftende Image los werden, hier stünden Texte vor Gericht und die Staatsanwälte der Kritik plädierten für die die Guillotine. Deshalb musste die öffentliche Verfertigung eines Urteils einer pseudolockeren Coffee-Table-Book-Plauderei weichen, der ein Ehrengast beiwohnt. Wenn der Bachmann-Wettbewerb je der "Dinosaurier unter den Fernsehformaten" war, zu dem ihn der Schriftsteller und Jurychef Burkhard Spinnen promovierte, dann hat ihn diese "Reform" zum Stallhasen der Fernsehunterhaltung gemacht. Zu Diensten war eine überaus gefällige Jury, deren sieben müde Mitglieder jede hermeneutische Spur der Texte bis in die letzte Verästelung verfolgten, Bewertungen aber mieden wie der Teufel das Weihwasser.

Schlimm genug, dass es dem ORF nichts ausmacht, die literarische Öffentlichkeit um das zu entkernen, was sie eigentlich ausmacht. Aber wenn schon deren Hüter bei der lächelnden Liquidation des ästhetischen Urteils mitmachen, sollten sie sich nicht beklagen, wenn es irgendwann gar keine "Streitkultur" mehr gibt. "Mehr möchte ich jetzt erst mal nicht sagen", passte Burkhard Spinnen, nachdem er lang und breit nacherzählt hatte, was im Text des Schweizer Autors Pedro Lenz stand, und die Kritikerin Ursula März sekundierte mit den Worten: "Ich will mich nicht auf ein Urteil festlegen." Spätestens da hätte man am liebsten den Laptop zugeklappt.

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