Schlohweißes Haar, die Hand am Rednerpult. Um ihn herum sitzt eine Heerschaar erschöpfter Jugendlicher auf dem Hörsaalboden. Eine Sekunde im Leben einer kurzen Revolte. In diesem Historienbild fällt vieles in eins. Erkenntnis und Handeln, die Koalition von Alt und Jung, von Intellektuellen und politischer Bewegung, der Moment zwischen Konzentration und Lethargie. So wie Herbert Marcuse 1967 in der FU Berlin steht, hat man plötzlich eine Ahnung davon, wie es gewesen sein könnte, fünfzig Jahre vorher, als der Philosoph aus Kalifornien kurze Zeit im Arbeiter- und Soldatenrat in Berlin saß. Auch damals scheiterte die Revolution.
1968 machte Herbert Marcuse neu berühmt. In seiner Geschichte der Frankfurter Schule bemerkt Martin Jay, die Chefaufklärer am Main seien besorgt gewesen über die publizistische Trendwende zu dem ungeliebten Außenseiter. Bei den Studenten war er beliebt, weil der Querdenker das Wort "Befreiung des Menschen" noch ohne soziologische Umwege aussprach. Es wäre unhistorisch, wenn man ihn heute zum uneingelösten Heroen einer ausstehenden Revolution stilisierte. Von seinen Studien für den US-Geheimdienst, über die Kritik am "antirevolutionären Staatssozialismus" im Osten bis zur nichtdenunzierbaren KP - eine Konferenz zu seinem 100. Geburtstag fand vor ein paar Jahren ein widersprüchliches, zeitbedingtes Nebeneinander von orthodoxem und unorthodoxem Marxismus, fortschrittlicher Trieb- und konservativer Kunsttheorie.
Die gleiche Erfahrung macht man, wenn man Marcuses Werk Der eindimensionale Mensch heute wiederliest. Die Analyse der "friedlichen Produktion von Destruktionsmitteln" in den fortgeschrittenen Industriegesellschaften und der "zur Perfektion getriebenen Verschwendung" bleibt verblüffend aktuell. Aber man wehrt sich unwillkürlich gegen das Wort "Gleichschaltung" in dieser Kulturkritik. Nicht nur wegen des missbrauchten Faschismusverdachts, mit dem die westliche Zivilisation da in toto belegt wird. Sondern auch, weil Marcuses Herrschaftsstütze namens "falsches Bedürfnis" so die eigene Gegenwart entwertet. Zwar liesse sich sein Satz: "Die Menschen erkennen sich in ihren Waren wieder; sie finden ihre Seele in ihrem Auto, ihrem Hifi-Empfänger, ihrem Küchengerät" mühelos um PC und Handy erweitern. Ob seine Freud-Weiterentwicklung mit dem Schlüsselbegriff "Entsublimierung" nun umstritten ist oder nicht. Diese Fixierung möchte man schon mit Marcuses neuer Sinnlichkeit aufbrechen. Inzwischen wäre aber auch nachzudenken, wie weit die Triebstruktur entfesselt werden soll, in der für Marcuse die Konterrevolution verankert ist. Damit erklärt man die Kommune 1 nicht nachträglich zum ersten Swinger-Club, wie die medialen Schauprozesse oder Houellebecqs Sturmlauf gegen die 68er suggerieren. Marcuses libidinöse Vernunft, die andere Form der Erfahrung gegen den Fetisch der "efficiency" bleiben in dem technologischen Totalitarismus heute aktuell. Eros und Porno sind nämlich zwei verschiedene Dinge.
Auch wenn man besser von kultureller Vereinheitlichung statt von Gleichschaltung sprechen sollte. Natürlich dominiert die nordamerikanische Kultur. Insofern trifft der Begriff von der "Eindimensionalen Welt" mit dem die brasilianische Philosophin Olgaria Chain Feres Matos Marcuse in die Gegenwart extrapoliert, eine Tendenz. Doch er wischt auch alle widerstrebenden Tendenzen gegen diese Welt mit weg. Der grosse Verblendungszusammenhang zerfranst in viele Submilieus. Ausserdem hat sich das System der Arbeit gründlich verändert. Wie das zusammenhängt, müsste neu diskutiert werden. Aber wer vermittelt noch mit der gleichen analytischen Schärfe, dass die bunte, scheinbar vielfältige Dingwelt, in die sich der Mensch damals wie heute gern verliert, ihn rückbindet an das Ganze?
Marcuse war in seinen Unijahren von Heideggers Werk Sein und Zeit fasziniert. Dessen Begriff von Geschichte und Individuum faszinierten ihn. Die nebulöse Begrifflichkeit lehnte er ab. Und brach mit dem Nazi-Kollaborateur nach dem Krieg. Doch sein Wunsch, dem verkrusteten Marxismus der II. Internationale mit der Phänomenologie die zu erkennende Welt näher zu bringen, bleibt ein aktuelles Leitmotiv kritischer Philosophie. Dass der Warenkritiker Marcuse die pop-art hasste, würde den Berliner Studenten vielleicht nicht gefallen haben. Aber dass er die scholastisch gewordene Theorie auf die Lebenswirklichkeit konkreter Menschen bezog, das müssen sie gespürt haben.
Zwischen Hoffnung und Notwendigkeit. Texte zu Herbert Marcuse. Herausgegeben von Peter-Erwin Jansen und Redaktion "Perspektiven". Verlag Neue Kritik, Frankfurt am Main 1999, 181 S., 25.- DM
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