Kopierer aller Länder ...

Böser Bube Der türkische Künstler Serkan Özkaya hat den "Freitag" zu einem temporären Kunstwerk gemacht

Proletarier aller Länder ... . So hieß ein Kunstwerk, das der türkische Künstler Serkan Özkaya 2001 in Istanbul realisierte. Auf dem Boden einer Ausstellungshalle standen Hunderte von kleinen rosa Figuren aus Schaumstoff. Alle diese niedlichen kleinen working class heroes reckten die linke Faust in die Höhe. Waren es Schlümpfe oder Radiergummis, die da den Boden säumten? Was sollte man von diesen revolutionären Subjekten halten?

Die Machart der Arbeit zeigt schon: Irgendein linker Traditionalismus ist Özkayas Sache nicht. Die pathetische Akklamation des historischen Slogans fehlt nicht zufällig im Titel des Werks. Proletarier, ja was denn nun? könnte man mit historischer Ratlosigkeit den fehlenden Teil ergänzen. Trotzdem ist die historische Masse, auf die bekanntlich alles ankommt, in Özkayas Arbeit mehr als nur ein popkulturelles Zeichen oder das ironische Zitat einer abgelaufenen Epoche. Denn wenn man auf die Gummipüppchen in der Galerie trat, gaben sie zwar nach, richteten sich aber immer wieder auf. In der doppelten Codierung zwischen putzigem Spielzeug und trotzigem Stehaufmännchen öffnete sich ein Raum der Ambivalenz, der zum Reflektieren reizt.

Kritiker und Kuratoren zählen den 1973 in Istanbul geborenen Özkaya zu den "bösen Buben" der türkischen Gegenwartskunst. Künstler wie Hale Tenger oder Özkaya machten nach den siebziger Jahren mit ihrem Hang zum republikanischen Realismus und dem Rückzug in die apolitische Konzeptkunst der achtziger Jahre die neunziger Jahre zu einem Jahrzehnt der neuen Politisierung. Explizit politische Themen wie Zensur, Folter, aber auch heiße Eisen der türkischen Gesellschaft wie der öffentliche Raum oder Sexualität waren Zielpunkte ihrer Kritik. Auf den ersten Blick kam manches scheinbar schamlos daher, was diese neue Kunstrichtung in Szene setzte. Auf einer Fotomontage aus dem Jahr 1999 Der Künstler als unerschöpfliche Quelle sieht man eine junge Frau in eindeutiger Pose vor einem Mann knien. Doch Özkaya bedient sich der pornografischen Szenerie nur als spektakulärer Maske. Eigentlich reflektiert er den Status des Künstlers in unserer Gesellschaft und die Hierarchien des Kunstsystems.

Hinter der drastischen Attitüde solcher Arbeiten verbirgt sich ein facettenreiches Œuvre. Der polyglotte Özkaya ist ein ambitioniertes Multitalent. Seine ausgefeilte Konzeptkunst ist nicht der einzige Beweis dafür, dass es die Türkei in Sachen Kunst und Kultur durchaus mit Europa aufnehmen kann. Nach Arbeitsaufenthalten in New York, Malmö, Nantes und New Hampshire studiert der bildende Künstler derzeit auch noch deutsche Literatur an der Universität in Istanbul. 2001 erschien sein Buch Genius and Creativity in the Arts: Schoenberg, Adorno und Thomas Mann, in dem er die Idee des Genies und des kreativen Subjekts in Schoenbergs Moses und Aron, Thomas Manns Doktor Faustus und Adornos Die Philosophie der Neuen Musik diskutiert. 2003 initiierte er ein Video-Festival in Istanbul. Zur Zeit sind Arbeiten von Özkaya in der Ausstellung "Fokus Istanbul" zu sehen, die an diesem Freitag im Berliner Martin Gropius-Bau eröffnet wird. Zu sehen sind dort Werke von rund 60 zeitgenössischen Künstlerinnen aus ganz Europa, die sich mit der Metropole Istanbul als Fallbeispiel für globale Prozesse beschäftigen.

In Özkayas Werk dreht sich alles um Original und Kopie, Autor und Werk. In Utrecht drapierte er 2004 die Glasfront einer Galerie mit Dias großer Kunstwerke. Die Agglomeration von transparenten Kopien der (abwesenden) Kunst wurde zu einem Original. Zugleich markierte die nachts von innen erleuchtete Galerie die Grenze zwischen Leben und Kunst. Einen ihrer wichtigsten Impulse bezieht die Kunst des abgelaufenen 20. Jahrhunderts aus dem Versuch, diese magische Schallmauer zu durchbrechen - Özkaya balanciert auf ihr.

Am liebsten vollführt er diesen Akt auf einer ihrer häufigsten Erscheinungsformen der Zeitung. 2003 realisierte er sein Projekt Heute könnte ein Tag von historischer Bedeutung sein mit der türkischen Intellektuellenzeitung Radikal, ein Jahr später dasselbe Projekt mit der dänischen Tageszeitung Aftonbladet. Die Blätter erschienen mit einer leicht veränderten Frontseite. Titel, Leitartikel und Aufmacherfoto der Zeitungen standen an ihrer gewohnten Stelle. Und doch war etwas anders als sonst: Alles, was die Leser auf der Titelseite sahen, war gezeichnet.

Mit dieser kleinen, aber fundamentalen Differenz hat Özkaya nicht nur die ritualisierte Alltags-Wahrnehmung durchbrochen: Man liest aufmerksamer. Hinter dem kaum merklichen Verfremdungseffekt steckt vor allem eine raffinierte Dialektik. Für Özkaya ist die Zeitung eine "Kopie des Lebens" - Sinnbild der Reproduktionstechniken der Moderne und zugleich selbst machtvoller Kreator von Realität. Der Philosoph Walter Benjamin sah mit diesen neuen Techniken, vor allem mit der Photographie, das Kunstwerk sein "einmaliges Dasein" und seine "Aura" verlieren. Kulturpessimismus liegt Özkaya jedoch nicht. Keine Angst vor der Reproduktion! hat er sich gesagt. Mit seiner Aktion hat er Benjamin, wenn man so will, vom Kopf auf die Füße gestellt. Denn Özkaya hat das Massenprodukt Zeitung zu einem einmaligen Kunstwerk verwandelt. Mit dem Paradox, dass er als Kopiertechnik den womöglich genuinsten Ausdruck künstlerischer Individualität gewählt hat - das Zeichnen. Das (gedruckte) Unikat, das daraus entstand, existiert in hoher, wenn auch begrenzter Auflage. Der Freitag, ein temporäres Multiple, zwei Seiten davon kann man sich als Kunstwerk an die Wand hängen - wenn das kein historisches Datum ist. Kopierer aller Länder, vereinigt Euch! wird man angesichts des frappierenden Comebacks einer präindustriellen Revolutionstechnik wohl deklamieren müssen.


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