Der Kampf um die türkische Seele. Die Schlagzeile des britischen Economist, um die politischen Wirren am Bosporus kurz nach der missglückten Präsidentenwahl Ende April zu beschreiben, suggeriert, dass es diese ominöse Substanz tatsächlich gibt. Doch abgesehen davon, dass die Spiritualisierung der Politik meist übel ausgeht. Nirgendwo passt diese Vokabel schlechter als in der Türkei. Mag das Land auch noch so sehr die Projektionsfläche für einen verstaubten Orientalismus hergeben. Von der Sprache über die Geschichte, von der Kleidung bis zu den Institutionen - alles an diesem Land ist eine ganz und gar unromantische Erfindung. Quasi über Nacht verwandelte Atatürk, ein Offizier des Sultans, das osmanische Vielvölkerreich in eine Republik westeuropäischer Prägung. Kann eine solche Nation vom Reißbrett überhaupt eine Seele haben?
Will man schon in außerpolitischen Kategorien denken, stellt man sich die Türkei besser als einen Organismus unter ständiger Hochspannung vor. In ihm liegt das westliche Über-Ich im ständigen Konflikt mit seinem östlichen Es. Die Türkei ist eine gespaltene Persönlichkeit par excellence. Denn der autoritären Modernisierung Atatürks ist es nie gelungen, die islamischen Wurzeln ganz auszureißen. Der Glaube aus der Frühzeit der Republik, in dem frisch gebackenen Körper namens Türkei würde sich der Geist der europäischen Kultur wie von selbst ausbreiten, hätte man erst Sufis und Derwische vertrieben, hat sich als falsch erwiesen. Immer noch rumort das unbewältigte Erbe. Selbst ein so westlich orientierter Schriftsteller wie Orhan Pamuk leidet bei den Streifzügen durch seine Heimatstadt genussvoll an hüzün, jener elegischen Stimmung im Schatten der stummen Zeugen einer verdrängten Geschichte, die er die "Seele Istanbuls" nennt. Zwischen Melancholie und Euphorie - kommt ihre labile Balance ins Kippen, schüttelt es den politischen Körper Türkei wie in psychotischen Schüben.
Diese permanente Identitätskrise hat die Parlamentswahl vom vergangenen Sonntag nicht beendet. Trotz des strahlenden Wahlsiegs von Ministerpräsident Tayyip Erdogan bleibt die Türkei ein, politisch wie psychologisch gespaltenes Land. Zwölf Prozent Zuwachs sind ein beachtlicher Erfolg. Jeder zweite Türke hat für Erdogan gestimmt. Aber immer noch stehen gut 50 Prozent seiner Politik ablehnend gegenüber. Wenn die AKP einen heilsamen Effekt auf den Gemütshaushalt des Landes hat, dann besteht er vor allem darin, den Teil des kollektiven Unterbewussten sichtbar gemacht zu haben, der sich bislang nicht zeigen durfte, obwohl er unbezweifelbar vorhanden war: den traditionellen Islam. Die AKP ist nicht die Rache des Propheten, wohl aber der (notwendige) Backlash der autoritären Modernisierung Atatürks.
Bislang litt sie unter dem Stigma, mit gut 34 Prozent der Stimmen nur per Zufall, dank der Zehn-Prozent-Hürde, zur alleinigen Regierungspartei aufgestiegen zu sein. Nun wurde die Partei mit einem unbezweifelbaren Mandat ausgestattet. Dass sich auf dieser breiteren sozialen Basis schon ein neues "Modell der Versöhnung zwischen Islam und Moderne, Islam und Demokratie" zimmern lässt, wie jetzt euphorisch gemutmaßt wird, ist möglich, aber längst nicht ausgemacht. Gerade Atatürks Beispiel hat die Schwierigkeiten des nation-building in der Retorte gezeigt. Nicht, dass ein neuer Versuch nicht notwendig wäre. Aber kann die programmatisch diffuse AKP in fünf, sechs Jahren ein so anspruchsvolles zivilisatorisches Projekt verwirklichen, wenn schon Atatürk und seinen Erben in 84 Jahren die Europäisierung der Türkei nur halb glückte?
Die AKP ist nämlich noch längst nicht die "Partei der Mitte", als die sie sich selbst gern darstellt. Nach wie vor gären in ihr Konflikte zwischen den postmodernen urbanen Mittelschichten und den frömmelnden Kleinbürgern aus Südost. Moderate wie Erdogan und Außenminister Gül stehen gegen Scharfmacher wie Parlamentspräsident Arinc. Die in letzter Minute auf Geheiß Erdogans auf die AKP-Listen gehievten Linken, Frauen ohne Kopftuch, Akademiker und Unternehmer haben sich diesen Platz nicht erkämpft, sondern simulieren konservative Modernität vorerst. Was werden sie wirklich ausrichten können? Linke und Laizisten dürften sich auf Dauer in einer echten liberalen Partei doch wohler fühlen als bei diesen Partnern.
Ihren Wahlsieg verdankt die AKP vor allem der seit sechs Quartalen ununterbrochen boomenden Wirtschaft. Das sichert ihr (noch) die Gunst des Kapitals und der neoliberalen Mittelschichten. Vor allem aber ist die Partei des dynamischen Premiers - vorübergehend - zum Vehikel einer großen Zahl von Unzufriedenen geworden, die mit der alten politischen Klasse abrechnen wollten: den verkalkten Etatisten der Republikanischen Volkspartei CHP und dem stets putschbereiten Militär. Wie lange diese heterogene Koalition hält, wird sich zeigen.
Wenn er es denn je gewollt hätte - das Wahlergebnis wird es Erdogan auf jeden Fall noch schwerer machen, an den säkularen Grundlagen der Türkei zu rütteln. Er wird sehr schnell beweisen können, wie ernst es ihm mit seinem am Wahlabend emphatisch vorgebrachten Bekenntnis zur "Vielheit" ist. In wenigen Wochen muss er einen Kandidaten für das Amt des Staatspräsidenten benennen, der die zwei Gesichter der Türkei repräsentieren kann - das westliche und das östliche. In noch besseren Händen liegt dieses Bekenntnis zum Pluralismus aber womöglich bei den unabhängigen Kandidaten: Kurden, Menschenrechtlern und Linken, die erstmals den Weg ins Parlament gefunden haben. Bei dieser Türkei von unten zeigt sich der zarte Keim eines neuen zivilgesellschaftlichen Bewusstseins, das belegt, dass der europäisch kostümierte Körper namens Türkei auch innerlich für die EU reif sein muss. Solidarität ohne Ansehen von Stand und Religion gehört nämlich zu den kostbarsten Ingredienzien der "Seele" Europas.
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