Kraft durch Wahrheit

Das Böse, das raus muss In seinem neuen Buch "Im Krebsgang" wühlt Günter Grass mal wieder in der Kanalisation der deutschen Verdrängungsgeschichte

Die alte Klofrau putzt zum letzten Mal die Brille und heimlich eine kleine bittre Träne fort. Die alte Klofrau sagt: Es ist mein letzter Wille. Zu bleiben hier an diesem dunklen stillen Ort." Den Standort, den Brigitte Mira in dem wehmütigen Coupletchen aus den fünfziger Jahren melancholisch besingt, war auch Günter Grass der liebste. Glaubte Francis Fukuyama mit seinem Ruf vom "Ende der Geschichte" diese überflüssige Absonderung schon im chemischen Trockenklo der Postmoderne verklappt, hielt Grass einsam Wacht am stinkenden, aber lebensnotwendigen Örtchen. Mit grimmiger Hingabe putzte er die Brille der Gesellschaftskritik, prangerte die Geschichtsvergessenheit an. Doch während Mira in der Moritat den Ort des Abgangs beschwört: "Hier ließ ich manche Hoffnung fahren. Und spülte manches Leid hinab, ja Leid hinab", hat der Nobelpreisträger meist am liebsten den Gummipfropfen angesetzt und die ganze Scheiße wieder nach oben gewirbelt.

Die Parallele mit den Fäkalien ist nicht geschmacklos. Mit ihr tut man Günter Grass kein Unrecht an. Denn in seinem neuesten Buch Im Krebsgang lässt er seinen Protagonisten, einen mittelmäßigen Journalisten, sagen: "Die Geschichte, genauer, die von uns angerührte Geschichte ist ein verstopftes Klo. Wir spülen und spülen, die Scheiße kommt dennoch hoch." Vom erhabenen Weltgeist hoch zu Pferde hat Grass nie viel gehalten. Nicht nur hat er - ob es um die Wiedervereinigung oder die Asylfrage ging - in historischen Momenten lieber gern voll in die Scheiße gefasst. Als Ende Januar der Kanzler AutorInnen ins neue Kanzleramt lud, trug Grass Novemberland von 1993 vor. Mit Vorsatz hatte er seinen Abscheu über den rechtsradikalen Mord- und Totschlag in seinem Heimatland in das klassische Versmaß der Sonette Petrarcas und Shakespeares gepresst, das Symbol der reinen, elaborierten Kunst. Diesen immer noch unverdauten Unrat packte er bei Gerhard Schröder mit gewohnt vernehmlicher Stimme auf den Tisch des Hauses oder genauer: in die keimfreie "Sky-Lobby" in den byzantinischen Prachtbau an der Spree. Der historische Treibstoff kam bei Grass auch immer menschen-, lebens- und bodennah daher. Mit seinem neuesten Werk verlängert Grass eine ästhetische Linie um ein weiteres Glied. Denn von der Rättin über den Butt bis zu den Unkenrufen hat er Tiere zu seinen Leitmotiven erkoren, die sich in dem Zwischenreich von Humus und Kot, von Nährboden und Ausscheidung bewegen. In diesem Gärstoff ist auch Im Krebsgang angesiedelt. Auch wenn kein richtiger Krebs darin vorkommt. Sondern das Schalentier nur die Metapher für die mal seitlich ausscherende, mal rasch vorwärtskriechende Bewegungsart der Erzähler abgibt.

Mit einer gewissen Manie verarbeitet Grass oft die Themen des gegenwärtigsten politischen Zeitgeistes zu Literatur. Doch man kann wirklich nicht sagen, dass er es sich in seinem neuesten Buch einfach gemacht hätte. Ein politisch korrektes Thema hat er mit dem Untergang des Schiffes Wilhelm Gustloff wahrlich nicht aus dem Fallrohr der Geschichte gezogen. Dazu ist das Schiff, das den Namen des ermordeten NSDAP-Führers in der Schweiz trug, ein zu zwiespältiges Symbol. Denn das Passagierschiff der "Kraft-durch Freude"-Armada des NS-Arbeitsführers Robert Ley steht zum einen für die lebensweltliche Attraktivität des NS-Systems. Und zum anderen für das Schicksal der deutschen Ostflüchtlinge. Tausende von ihnen wollten sich auf dem riesigen Dampfer in den letzten Kriegstagen vor der Roten Armee in Sicherheit bringen. Drei Torpedos aus einem sowjetischen U-Boot, das der Kapitän der baltischen Rotbannerflotte, Alexander Marinesko befehligte, besiegelten die bislang größte maritime Katastrophe der zivilen Seefahrt. Am 30. Januar 1945 kamen vor dem pommerschen Stolpemünde wahrscheinlich bis zu 9.000 Menschen ums Leben. Mehr als auf der Titanic. Ein traumatisches Ereignis, das selten in Geschichtsbüchern auftaucht. Das die Menschen aber nicht vergessen haben.

Historische Klarheit, so muss man einen der letzten Arbeiter am Gulli der Geschichte interpretieren, ist das beste Abführmittel. Den Neonazis von heute kann man nur mit der ganzen Wahrheit das Wasser abgraben. Und wenn die heute sogar im Internet wieder die Niedertracht von Juden und Russen beweisen wollen, dann muss man die größte Schiffskatastrophe eben noch einmal aufrollen. Historische Tabus gebären gefährliche Mythen. Und dass Typen wie Wilhelm Gustloff heute wieder als "Blutzeuge" gefeiert werden können, hat damit zu tun, dass man, wie Erna Pokriefke aus Danzig-Langfuhr, die eigentliche Heldin des "Krebsgangs", es ihrem Sohn Paul erzählt: "ieber die Justloff nich reden jedurft hat. Bai ons im Osten sowieso nich. Ond bai dir im Westen ham se, wenn ieberhaupt von frieher, denn immerzu nur von andre schlimme Sachen, von Auschwitz und so was jeredet."

Schon in seinem letzten Werk Mein Jahrhundert (Freitag 29/99) gab sich Grass als linker Volksaufklärer. Auch das neue Werk ist nicht frei von den Schablonen, mit denen man in diesem Beruf so arbeiten muss. Grass hat zwar ein bewundernswertes Gespür für den Alltag der unteren Zehntausend. Für das Leben zwischen Pellkartoffeln, Plattenbau und altem Fuchspelz. Hätte er nicht so einen ekligen Seebärenschnauz - man möchte ihn küssen dafür, wie unbeirrt er seine Kunst aus dem Bodensatz der Geschichte schöpft. Mutter Pokriefke, eine Wiedergängerin aus alten Grass-Romanen, ist einer jener Charaktere mit herzerwärmender Bauernschläue, eiserner Konsequenz und historischer Verbohrtheit, die jahrzehntelang nach dem Zweiten Weltkrieg die neuen politischen Systeme West wie Ost wortlos unterlaufen haben. Trotz Abscheu über Hitlers Verirrungen berichteten diese Frauen, denen die Geschichte die Jugend gestohlen hatte, ihren Kindern noch Jahrzehnte nach dem Krieg mit leuchtenden Augen davon, wie glücklich sie als BDM-Mädels waren. Das hinderte die bissige Agnostikerin Erna, genannt Tulla, nicht, in Tränen auszubrechen, als der Sowjetführer Stalin 1953 stirbt. Die "Kaadeäff"-Begeisterte, die in der DDR zur Leiterin einer Tischlereibrigade avanciert, glaubt noch immer an den klassenlosen Sozialismus. Wie auf der Gustloff. Auf dem Schiff, auf dem sie ´39 eine Urlaubsreise nach Norwegen machen durfte, gab es nur eine Passagierklasse für alle. Noch 1991 legt die alte Frau heimlich Blumen am zerstörten ehemaligen Ehrenhain für Gustloff in Schwerin nieder. Und in der DDR sagt sie über ihn: "der so tragisch hinjemordete Sohn von onsere scheene Stadt Schwerin". Tulla Pokriefke ist der Prototypus dieser verwinkelten, paradoxen deutschen Psyche.

Doch von innen ist dieser Charakter nicht so recht entwickelt. Immer wieder merkt man, wie der Meistererzähler am Schreibtisch seinen Personen Zuschreibungen auflegt. Die Tiefenpsychologie des Unverarbeiteten gerät Grass hart an den Rand der Karikatur. Mitunter verselbstständigt sich Erna Pokriefkes notwendiges Ostpreußisch so, dass man an manchen Stellen unwillkürlich an Heidi Kabel aus dem Hamburger Ohnesorg-Theater denken muss. Grass´ docu-fiktionaler Zweikomponentenkleber kämpft mit den Aporien historisierender Literatur. Er bezieht seine starke Wirkung vor allem aus den dramatischen Ereignissen. Erna Pokriefke und ihr blasser Sohn Paul dagegen, die für das Subjektive zuständig sind, wirken oft wie aus Glanzpapier grob gerissene Figuren, die man vor einen Schwarzweißfilm gestellt hat.

Alles in allem ist Im Krebsgang aber eine gelungene Mischung aus postmoderner Vielstimmigkeit und anschaulichem Erzählen. Auch wenn dessen Tempo bisweilen etwas behäbig ausfällt. Es geht in dieser Geschichte auch nicht ohne Platitüden ab. Erna Pokriefkes Enkel Conny, der sich, angestachelt von den Flüchtlingsgeschichten seiner Großmutter, für das Schicksal des Schiffes zu interessieren beginnt und sogar eine Webseite www.blutzeuge.de zu dem Schiff und seinem Namensgeber ins Netz stellt, zieht nach der Trennung seiner Mutter von ihrem Mann ausgerechnet nach Mölln. Und als dieser neunmalkluge Pennäler seinen scheinbar jüdischen Widersacher aus einem rechten Chatroom, David, am ehemaligen Ehrenhain Gustloffs in Schwerin ebenfalls mit vier Schüssen erschießt, so wie der Jude David Frankfurter 1936 in Davos Wilhelm Gustloff nieder streckte, winkt Grass´ historischer Zeigefinger doch etwas zu sinnfällig: Die Geschichte wiederholt sich! Wenn wir nicht alles aufarbeiten!

Doch geschickter als der Österreicher Joseph Haslinger, der in seinem letzten Roman Das Vaterspiel" (Freitag 41/00) einen alten Nazi in einem Keller in den USA verstecken musste, verknüpft Grass Vergangenheit und Gegenwart, Tod und Leben. Paul, ein opportunistischer deutscher Journalist, der mal für Springer, mal für die taz schreibt, kam auf der Gustloff genau in dem Moment zur Welt, als die unterging. Das Abgleiten seines Sohnes ins neurechte Netz-Milieu hat den historisch bewusstlosen Zeilenschinder aufgeschreckt. Seinerseits beginnt er nun, wie es seine Mutter immer von ihm vergeblich verlangt hatte, ihre Lebensgeschichte aufzuschreiben, die auch seine Geschichte ist. Beiläufig korrigiert er dabei ein paar Mythen um die Wilhelm Gustloff, denen sein Sohn erliegt. Dass ihr Bau aus den eingezogenen Geldern der zerschlagenen Gewerkschaften bezahlt wurde. Dass sie nämlich nie nur dem klassenlosen Sozialismus diente, sondern auch deutsche Truppen der Legion Condor aus dem spanischen Bürgerkrieg transportierte. Und in der Nacht des 30. Januar 1945 auch deutsche Marinesoldaten an Bord hatte, die auf neuen deutschen Wunder-U-Booten die Kriegswende herbeibomben sollten.

So grob Grass seine Figuren mitunter strickt, er nimmt sie doch nie in Geiselhaft für vorgefertigte politische Thesen. Durch den Mund des anonymen Auftraggebers des Journalisten für die schriftliche Erinnerungsarbeit entschuldigt sich der Schriftsteller Grass sogar dafür, dass er diesen Teil der deutschen Geschichte zu lange unbeachtet gelassen hat. Anders als in den rechthaberischen und ausufernden politischen Tiraden seines Wiedervereinigungs-Romans Ein weites Feld hat Günter Grass eine unverarbeitete Tragödie der Geschichte in all seinen widerstrebenden Facetten zur Sprache gebracht. Das Bild der jungen Marinehelferinnen, die auf der Gustloff von den zerberstenden Mosaiken des Schiffsschwimmbads zerfetzt werden, spricht nur für sich. Zu seinen historischen "Helden", den Fanatikern Frankfurter, Gustloff und Marinesko lässt Grass seinen Schreiberling kühl Distanz halten: "Menschen, die immer nur auf einen Punkt starren, bis es kokelt, qualmt, zündelt, sind mir noch nie geheuer gewesen." Im Krebsgang hat sich Günter Grass zu einer volkstümlichen Novelle mit historischem Tiefgang diszipliniert, der man sich schwer entziehen kann.

"Schauen wir am heutigen 8. Mai, so gut wir es können, der Wahrheit ins Auge", hatte Bundespräsident Richard von Weizsäcker 1985 seinen Landsleuten im Deutschen Bundestag geraten. Vielleicht konnte nur ein so untadeliger Linker wie Grass das, wie Tulla sagt, "Böse, das raus will" ans Tageslicht befördern und das Bild der historischen Wahrheit um ein ausgeblendetes Bild komplettieren. Als erster ein Tabuthema hat Grass mit seinem Roman zwar nicht gebrochen, wie der Spiegel meint. Schon 1998 hatte der Schriftsteller Hans-Ulrich Treichel in seinem Roman Der Verlorene (Freitag 11/98) das Nachkriegsschicksal eines Vertriebenenkindes psychologisch überzeugender geschildert. Aber Grass hat mit seinem Werk nicht nur die problematische Vorreiterrolle der Literatur bei der historischen Erinnerungsarbeit bekräftigt. Er hat auch - nicht nur Martin Walser - das Kunststück vorgemacht, wie man das Anliegen von Revanchisten aufnehmen kann ohne ihnen nach dem Mund zu reden. Oder nachträglich den Nazikrieg schön zu reden. Die Demokratie, so muss man Grass lesen, bezieht ihre Kraft aus der Wahrheit, die aus der Selbstreflexion wächst. Trotz aller stilistischen Einwände. Angesichts der rhetorischen Diarrhoe, die die politische Klasse bei dieser Übung regelmäßig in den Stammtischgulli leert, ist das eine nicht zu unterschätzende Leistung. Nicht, dass wir von Günter Grass nicht furchtbar gern auch endlich einmal eine ganz unpolitische, ganz filigran gewirkte Liebesgeschichte lesen würden. So lange die verflixte engagierte Literatur, die er vertritt, so komplex, beherrscht und klar arbeitet wie in diesem Werk, möchte man hoffen, dass er das verstopfte Geschichtsklo noch öfter putzt. Er also noch nicht das tun muss, was Brigitte Mira im Lied der alten Klofrau seufzend ankündigt: "Und zieht zum letzten Male, letzten Male ab."

Günter Grass: Im Krebsgang. Eine Novelle. Steidl-Verlag, Göttingen 2002, 216 S., EUR 18

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