Krücken der Erinnerung

Gesichter Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas braucht Fantasie und Verstand

Judengasse. Judenacker. Judentor. Zwei Jahre lang ist die amerikanische Künstlerin Susan Hiller durch deutsche Städte und Dörfer gereist und hat nach Straßen gesucht. Straßen, die das Wort Jude in irgendeiner Kombination im Schilde führten. Es war eine Reise in das Unbewusste der deutsche Kultur. Die mehr als 300 Namen, auf die sie dabei gestoßen ist, zeigen nämlich, wie selbstverständlich Juden Teil des deutschen Alltags gewesen sind. Zugleich ist The J. Street Project, der Dokumentarfilm, zu dem Hiller ihre Reise verarbeitet hat, ein aufschlussreiches Dokument: Eines der Abwesenheit und des Abseits. Kaum etwas in diesen Straßen, die Hiller gefunden hat, erinnert noch an das jüdische Leben darin, meist liegen sie an der sozialen und urbanen Peripherie.

Ist die mahnende Erinnerung an das deutsche Verbrechen an den Juden nun endgültig in die Mitte des Staates und der Gesellschaft gerückt, weil ein 19.000 Quadratmeter großes Gelände im Herzen der Hauptstadt als »Denkmal für die ermordeten Juden Europas« fungiert? Wer den Zulauf sieht, den die extreme Rechte für ihre Parolen noch immer verzeichnen kann, könnte Zweifel daran hegen. Trotzdem hätte es dieses Denkmals nicht bedurft, um der deutschen Republik ein Prüfsiegel der NS-Aufarbeitung aufzukleben. Denn ob man sich hierzulande nur widerstrebend dazu durchrang oder das Verbrechen bis heute leugnet: beide Haltungen sind ein Beweis für die Zentralität des Genozids in der kollektiven Identität der Deutschen. Auch wenn es die authentischen Orte nicht ersetzen kann und soll: die Einweihung von Eisenmans Stelenfeld direkt hinter dem Berliner Reichstag ist ein symbolisches Bekenntnis, das man nicht gering schätzen sollte: Verneigung vor den Ermordeten ebenso wie Zeugnis dieser Trauerarbeit, zuletzt in 17 Jahren Mahnmalsstreit.

In dem magischen Dreieck zwischen Kitsch, Kunst und Grauen, in dem sich die ästhetische Bearbeitung des Holocaust stets bewegt, belegt das neue National-Denkmal einen akzeptablen Platz. Als repräsentative Kranzabwurfstelle oder als Terrain für pompöse Entlastungsrituale kann man das unübersichtliche Labyrinth nur schwer inszenieren. Seine offene Form lässt sich auch keineswegs als statuarischer Schlussstein der Erinnerung lesen. Zwar markiert es einen fast selbst schon gedenkwürdigen Gipfelpunkt der Abstraktion, ins Fegefeuer der historischen Katharsis begibt sich nicht, wer durch die eng gestellten Betonquader streift. Doch die eindrückliche Personalisierung des Gedenkens an einem dem Mal untergeschobenen »Ort der Information« verhindert, dass sich der Besucher ins bedeutungsschwere Ungefähr verliert. Wer oben zwischen Stelen namenlose Beklemmung verspürt, schaut unten in reale Gesichter von Ermordeten.

Dieser salvatorische Kompromiss muss dem Minimal-Artisten Eisenman schwer gefallen sein. Genauso schwer wie das Versprechen an die pathetisch-mystische Realistin Lea Rosh, den Backenzahn eines Ermordeten und einen gelben Judenstern in eine Stele einzufügen. Man kann darin aber auch eine aufschlussreiche Aporie der Gedenk-Ästhetik sehen. Ohne die historischen Informationen wäre des Architekten abstrakter Stelenwald als Mahnmal nur schwer zu gebrauchen. Allein mit einem Informationsort wäre die symbolische Satisfaktion nicht möglich, um die es der Mahnmals-Initiative gegangen war, die Lea Rosh 1988 ins Leben rief. Die Ästhetisierung des Holocaust, von Lanzmann bis Spielberg, scheint in Berlin an eine Grenze gekommen. Fantasie und Verstand bleiben bei dem neuesten Gedenkort der Republik aufeinander angewiesen. Sie bilden einander die Krücken der Erinnerung. Die Deutschen werden beide noch öfter benötigen. Und nur wenn diese Erinnerung nicht an einen symbolischen Ort abdelegiert, sondern überall im Lande weitergeführt wird, kann man sicher sein, dass im Schatten des Brandenburger Tors kein kunstvolles Finale der Erinnerung gegeben wurde.


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