Kulturrevolution am Bosporus

Multikultur Die EU sollte den kulturellen Wandel in der Türkei nicht nur tatenlos beobachten

Privilegierte Partnerschaft. Das klingt wie eine besondere Beziehung, eine Auszeichnung. Doch die Türkeipolitik der Union lebt von der Logik der Ausgrenzung. Und sie macht die Rangordnung in Europa deutlich. Es gibt Privilegien. Aber wir bestimmen wer welche erhält. Angela Merkels klangvolle Formel soll darüber hinwegtäuschen, dass in Europa nicht jeder gleich willkommen ist. Kein Wunder dass viele Türken die privilegierte Partnerschaft der Union eher wie eine privilegierte Benachteiligung empfinden.

Merkels Türkei-Politik trieft nur so von herablassendem Eurozentrismus. Ungeniert setzt sie auf Vorurteile, Xenophobie und Besitzstandswahrung. Trotzdem scheint sie den Nerv ihrer Landsleute zu treffen. In Amerika macht sich gerade eine neue Türkeibegeisterung breit. Cool Istanbul überschlug sich die liberale Newsweek Ende August begeistert ob des rasanten Kulturwandels, den sie am Bosporus beobachtet hatte. Galt die Türkei noch vor kurzem den USA wegen ihrer Weigerung, den Amerikanern Militärbasen für den Angriff auf den Irak zu überlassen, als unsicherer Kantonist, mutierte ihre heimliche Hauptstadt über Nacht zu Europes hippest City. Das Magazin kramte zwar auch ein paar klebrige Uralt-Klischees wie tanzende Derwische und turkish delights aus den Gassen von Beyoglu, war aber ganz hin und weg von der Mischung aus wirtschaftlicher Dynamik und neuer Multikultur.

Anders hierzulande. Glaubt man den Demoskopen, sind drei Viertel der Deutschen gegen einen EU-Beitritt der Türkei. Sie bestaunen zwar die Hagia Sophia und schwärmen von Antalya. Aber dass sich der Vermieter von der Ägäis nun auch mit Rechtsanspruch jederzeit als Bäcker niederlassen könnte, ist ihnen nicht recht. Diese Schizophrenie sitzt so tief und fest, dass die FAZ dieser Tage die deutsche Turkophobie als einzigen Grund für den möglichen Wahlsieg der CDU ausmachte. Spät, aber endlich kommen überfällige Vermittlungsprojekte wie die "Türkische Bibliothek" der Stuttgarter Robert-Bosch-Stiftung und des Zürcher Unionsverlages. Doch man kann sich vorstellen, wie lange es in diesem Klima dauern wird, mit dem 20-bändigen Editionsprojekt vor allem an den Schulen Interesse für die reiche Kultur unseres fremden Nachbarn wecken. Die hat nämlich deutlich mehr zu bieten als Döner und Ghettoblaster.

Ganz unbegründet ist die Skepsis über die gelegentlich undurchsichtige Gemengelage am Bosporus natürlich nicht. Erst kürzlich erschreckte ein Istanbuler Staatsanwalt die europäische Öffentlichkeit mit der Entscheidung, den türkischen Schriftsteller Orhan Pamuk wegen "Verunglimpfung der türkischen Identität" anzuklagen. Pamuk, der im Herbst den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten soll, hatte in einem Interview mit dem schweizer Tages-Anzeiger den Genozid an den Armeniern als das bezeichnete, was es ist: ein Verbrechen. Nun drohen ihm von einem Paragraphen drei Jahre Gefängnis, den man im Zuge EU-Anpassung des türkischen Rechts eigentlich schon auf dem Kehrichthaufen der Geschichte gewähnt hatte. Der Vorgang nährt die Zweifel, ob die Türkei es wirklich ernst meint mit ihrer Orientierung an den universalistischen Standards.

Trotzdem ist diese abenteuerliche Anklage kein Beleg dafür, dass am Bosporus noch immer der europaunverträgliche Geist der orientalischen Prämoderne herrscht. Denn sie ist eine Spätfolge des europäischen Exportartikels, mit dem Mustafa Kemal Atatürk das untergehende osmanische Vielvölkerreich brachial zu einem Ebenbild des Westens zu formen versuchte - den Nationalstaat. Wer auf die dunklen Seiten der türkischen Politik und Gesellschaft schaut, erblickt oft genug die Karikatur des europäischen Nationalismus des 19. Jahrhunderts.

Das "türkische Modell" der autoritären Verwestlichung auf der Einbahnstrasse der Kultur ist gescheitert. Zu schroff brach es mit jahrhundertealten Traditionen in Kultur und Alltag. Nun legt das Land langsam die kemalistische Zwangsjacke der türkischen Monokultur ab. Das Phantom einer homogenen Nation zerfällt. Das Land entdeckt seine lange verleugneten Ethnien und ihre Sprachen. Armenier, Kurden beginnen, sich öffentlich zu zeigen, zu artikulieren und ihre Geschichte aufzuarbeiten. In Istanbul erinnert eine Ausstellung an die Pogrome, mit denen die Juden 1955 aus der Stadt vertrieben wurden.

Hier und da schlägt das Pendel mitunter in die entgegensetzte Richtung einer muslimischen Monokultur. Doch nicht nur Fundamentalisten interessieren sich für die arabischen Wurzeln der Türkei: "Ich gebrauche gerne die alten Wörter, die die Kemalisten aus unserer Sprache verbannten" begründet die feministische Autorin Elif Shafak ihr Interesse an den "verjagten Wörtern" des alten Türkisch. Die kulturellen Errungenschaften des Westens über Bord werfen wollen sie deshalb noch lange nicht.

Skeptiker sehen die Türkei wegen dieser Entwicklungen schon kurz vor dem Wechsel ins islamische Lager. Doch erklärte Laizisten wie Tülin Bumin sehen die Lage entspannter. Die Istanbuler Philosophin plädierte vor ein paar Tagen in Berlin für Religionsfreiheit und für Respekt dem Kopftuchwunsch junger Frauen gegenüber. Derrida lesen und sich muslimisch kleiden sei kein Widerspruch meinte sie auf einer Konferenz der Berliner Festspiele. Die Prozesse sind zudem gegenläufig. Denn seit den den neunziger Jahren pfeift eine immer kosmopolitischere Künstlerschaft auf die H-Milch der "türkischen Identität" oder die traditionellen Geschlechterrollen und beginnt sich den öffentlichen Raum zurück zu erobern, der bislang immer streng kontrolliert war.

Natürlich ändert eine hippe Metropole noch nicht die ganze Türkei. Und niemand kann sagen, wie dieses Experiment in Sachen türkische Zivilgesellschaft ausgeht. Aber das es gewagt werden muss, wenn eine soziale Basis jenseits des Militärs geschaffen werden soll, eine Basis, die die republikanischen Errungenschaften im Herzen trägt und nicht als Tagesbefehl ausgeben muss, ist unbestreitbar. Es wäre ein Fehler, die voranschreitende Kulturrevolution am Bosporus nur selbstgerecht mit den Händen in den Taschen der Aufklärung abzuwarten oder ihre Widersprüche für den Wahlkampf zu instrumentalisieren. Die Türkei gehört auch deshalb in die EU, weil der Kampf um die Herausbildung einer neuen Kultur der Toleranz der Kern der "europäischen Identität" ist.


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