Ewig währt die Literatur. Man muss nur lange genug durchhalten. Eines Tages hört der multimediale Spuk schon auf. Wer einmal auf den Erlanger Poetentagen war, die jedes Jahr die literarische Herbstsaison einläuten, dem mag die Formel plausibel vorkommen, mit der sich der nervöse gewordene Literaturbetrieb unter der Hand gern über seine Zukunftsaussichten in der Mediengesellschaft selbst beruhigt. Drei Tage lang sitzen 500 bis 1.000 Menschen von mittags bis abends im wunderschönen Schlossgarten des Barockstädtchens und feiern ein Volksfest der Literatur. Ein "Woodstock" der deutschen Literatur ist der Lesemarathon zwar nicht, wie einmal ein euphorischer Anhänger des spätsommerlichen Events befand. Dazu gibt es zu wenig freie Liebe auf offener Lesebühne oder satte Kifforgien. Die Bratwurst-und-Kaffeedünste im familienfriedlichen Provinzgrün erinnern mehr an ein Stadtteilfest. Aber für eine Massenverankerung der Literatur sorgt das seit 1980 fast ununterbrochen gefeierte Open-Air-Biwak denn doch.
Wenn die Erlanger Samstagmittag mit ihren Wochenendeinkäufen vom Markt in den Schlossgarten abbiegen, kann man die Verwandlung des Konsumbürgers zum Kulturbürger beobachten. Erlangen führt der Kunst Laufkunden zu. Manchmal fragt man sich zwar schon, was erwachsene Menschen dazu bringt, 20 Minuten andächtig der Verlesung eines Textes zu folgen, den man aus dem Zusammenhang eines Buchs von hunderten Seiten gerissen hat. Aber wenn es der Kunst nützt? Und wann können Literaten schon mal vor solchen Zuhörermengen auftreten? In Erlangen wird die Provinz zum Resonanzboden der Weltpolitik. "Was der Bush der Demokratie angetan hat" ereifert sich ein älterer Stadtbürger nach einem aktuellen Podium zum "Kampf gegen den Terror" im markgräflichen Redoutensaal und zielt mit seinem Spazierstock auf meine Nasenspitze, "das kann man gar nicht wieder gut machen." Kurzum: Das Erlanger Poetenfest ist eine Einstiegsdroge für die Literatur und die Streitkultur, die wir nicht und niemals missen wollen.
Freilich birgt der Genius loci auch seine Tücken. Das Gefühl der stehen gebliebenen Zeit in dieser überschaubaren Idylle zwischen Fußgängerzone, Wollgeschäft und Waschbeton entzückte den diesjährigen Büchnerpreisträger Wilhelm Genazino dermaßen, dass er das unschuldige Erlangen zum Paradigma für die "Widerstandskraft des Provinziellen" und der "Modernisierungsunlust" erklärte. Doch soll man ausgerechnet der Literatur wünschen, was sich selbst der globalisierungsgestresste Berliner Kolumnist Harald Martenstein auf einem anderen Podium für die beschleunigten Zeitläufte wünschte: dass sich endlich einmal "nichts mehr ändert"?
Ein prekäres Konkurrenzverhältnis konnte man beim nächtlichen "Konzert der Stimmen" hautnah erleben. Als der Übersetzer Ralph Dutli in der Orangerie anhub, ein Liebesgedicht Ossip Mandelstams zu intonieren, drang von dem bereits zum Mitternachtsfest illuminierten Schlossgarten die gedehnte Stimme eines profaneren Reimeschmieds in die Hallen der reinen Lyrik: T-i-me is on my side nölte Mick Jagger siegesgewiss durch die Nacht. Dutli konnte sich noch so mühen. Gegen diesen suggestiven Klang eines Dinosauriers des Rock war er erst einmal machtlos. Nur bei dem schrillen Klagelaut, mit dem die Berliner Lyrikerin Brigitte Oleschinski die träge Masse auf der Lesewiese erschreckte, hatte man das Gefühl, dass die Literatur sich einmal traut, mehr als den auratischen Text in vertrauter Runde zu zelebrieren.
Vom Schlagerabend bis zur Literaturperfomance - auch sonst war Erlangen ein Beispiel dafür, wie man Literatur sachte anders vermitteln kann als nur mit Lesungen. Das wird auch Zeit. Nicht umsonst sagte ein Jungliterat und Kinofreak wie der smarte Gregor Hens in einem der vielen Erlanger Autorengespräche von seiner Arbeit: "Ich bemühe mich, Bildkompetenz in die Literatur zu tragen." Genau an der Schnittstelle zwischen Bild und Text hat die Literatur nämlich Kompatibilitätsprobleme. Als der Schauspieler Herbert Fritsch von Frank Castorfs Volksbühne kürzlich Shakespeares Hamlet ins Netz stellte, wurde er kurzerhand aus dem Chatroom geworfen. Daraufhin zerlegte er die Inkunabel der Hochkultur in ein filmisches Mosaik aus 111 Episoden und packte sie auf drei DVDs. In Fritschs hamlet_X-Projekt kann man sich durch nachgespielte und erfundene Hamlet-Szenen zappen. Das jüngere Publikum im Erlanger Avantgarde-Theater Garage war von dem bizarren Spektakel begeistert. Der Spruch, der Gerhard Schröder in Bezug auf den Sozialstaat im Halse stecken zu bleiben droht, hier ließe er sich mit gutem Gewissen auf die Literatur anwenden: Man muss sie modernisieren um sie zu erhalten.
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