Leere

Subversiv Das "Mittebuch" rollt den Mythos Berlin von innen auf

Wie dekonstruiert man einen Mythos? Am besten, indem man sich darin einnistet. Man darf diese Erkenntnis im Fall des Berliner Verbrecher-Verlages nicht nur als elegante Metapher verstehen, sondern sie durchaus wörtlich nehmen. Denn mitten im Mythos Mitte, jenem gelobten Land in der altneuen Bundeshauptstadt zwischen Hackeschem Markt und Torstrasse, wo Latte Macchiato und der Honig der Kreativität fließen, versucht eine kleine Schar von ästhetischen Piraten dieses virtuelle Zentrum des neuen Deutschland von innen her auszuhöhlen. Jeden Dienstag trifft sich im versifften "Cafe Burger" ein alles andere als mittechices Völkchen zu Text, Musik und Politik. Der Glamfaktor liegt bei Null, der Renitenzfaktor bei Hundert. Schlechte Karten für Mitte, sollte man eigentlich meinen. Aber über die Jahre hat dieser Literatur-Caucus ein paar Autoren aus dem Untergrund gemendelt, ohne die die neue Berliner Subkultur nicht mehr zu denken wäre: Wolfgang und Max Müller, Jim Avignon, Dietmar Dath oder Ambros Waibel.

Anders als die ewig gut gelaunten Lesebühnen fordert diese Sammlungsbewegung der subversiven Intelligenz unter dem provokativen Titel "Verbrecher" die neue großdeutsche Rechtschaffenheit heraus. Es versteht sich, dass, wenn nun die Oberverbrecher, der Kritiker Jörg Sundermeyer und der Autor Werner Labisch, Texte aus dieser Szene zu einer Anthologie namens Mittebuch binden, sie die allgemeine Berlinbegeisterung nicht mit noch einem Kassenknüller verträumter Flaneursgeschichten schüren wollen. Der zweite Band ihrer erfolgreichen Reihe von Stadtbüchern, die über Neukölln inzwischen bis nach Bielefeld und Marburg ausgreifen, könnte man als literarisches Pendant zur Berlin-Kunstbiennale derzeit ansehen. Es geht darin um eine literarische Vermessung des Areals jenseits des Glanzbildes von Mitte.

In den sechsundzwanzig Texten findet man liebevoll ironisch alle Mitte-Klischees beschrieben, die man sich in Heilbronn nach dem letzten Berlin-Ausflug erzählt: Von bizarren Schaufensterperformances, dem "Jewish Disneyland" um die Oranienburger über die ekligen Werbefuzzis am Hackeschen Markt bis zu den angesagten Szeneclubs. Wer diese Szene kennt, kann Christiane Rösinger nur beipflichten, die als beste Art, in Mitte auszugehen, sarkastisch das Zuhausebleiben empfiehlt. Das Verrückte an Mitte ist nur, dass man inzwischen alles genauso schrecklich findet wie die Autoren, sich dann aber doch wieder beim Cocktail in der Riva-Bar oder im Hackbarths trifft.

Für Fluxus zu bieder, für Politkunst zu erzählerisch: In diesem Mittesampler gehen eilige Machart, Trash-Avantgarde und antinationale Immunisierung ein respektloses Asphalt-Bündnis ein. Etwa, wenn Stefan Wirner in seinem Text Einmal Demokratie und zurück mit einer Zitatecollage aus Zeitungsartikeln, Essays und Reden über Berlin das flottierende Unbewusste der neuen deutschen Mitte zu Bewusstsein bringt: "Großmacht Deutschland, ganz normal." Wer ein Gegengift zum Geschichts- und Sozialnarkotikum Mitte sucht, in diesem großartigen kleinen Buch wird er fündig.

Sein einziges Problem ist vielleicht, dass darin manches zu deutlich gesagt wird. Das hat den Vorteil des Erkenntnisgewinns. Mit dem schönen Begriff "Freiheit und repressive Kapitalisierung" bringt Axel John Wieder die verführerische Welt der vielen kleinen Kreativ-AGs auf den Punkt. Die flanieren zwar alle stolz durch Mitte, bemänteln aber mit dem modischen Selbstständigkeitsoutfit meist doch nur ganz privates Elend. Treffender als der geballten Kraft kritischer Analyse gelingt es den Literaten, die neue Mitte als trauriges Luftschloss zu entlarven. Die Geschichte des Berliner Schriftstellers David Wagner über einen Abend in dem inzwischen geschlossenen Nobel-Lokal "Weltbühne" ist zwar auch eine Reportage. Aber in ganz lapidaren Sätzen fängt dieser Meister der Melancholie, nicht gerade der klassische "Verbrecher", die Bauchlandung der hochfliegenden Generation Mitte ein: Da, wo sie sich treffen sollte, sitzt der Reporter ganz allein, bis ihn ein Passant aufschreckt: "Und er starrt, als sei der einsame Gast Teil einer Inszenierung, in den Saal." Plötzlich hat man fast Mitleid mit Mitte. Warum den Mythos dekonstruieren, wenn er doch hohl ist? So hohl, dass die Verbrecher inzwischen in den guten alten Mehringhof ins gute alte Kreuzberg gezogen sind. Dieser Mythos ist unsterblich. Man kann ihn vielleicht ankratzen. Dekonstruieren kann man ihn nicht.

Mittebuch. Herausgegeben von Jörg Sundermeier, Verena Sarah Diehl und Werner Labisch. Verbrecher, Berlin 2003, 195 S., 12,30 EUR


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