Lockstoff für Erstleser

Im Gespräch In Leipzig öffnet die Buchmesse ihre Tore. Für Jugendliche wie immer mit verbilligtem Eintritt. Buchmessendirektor Oliver Zille über Medienkompetenz und Vorlesekultur

Der Freitag: Oliver Zille, wenige Jahre nach der Wende war die Zukunft der Leipziger Buchmesse noch unsicher. Heute gilt sie mit dem viertägigen Lesefest „Leipzig liest“ als hippes Event. Wie kam es zu dieser Wende?


Oliver Zille:

Die Buchmesse hat ein ganz eigenes Konzept zur Literaturvermittlung entwickelt: Sie etabliert neue, junge Literatur am Markt und zieht ein lese- und literaturbegeistertes Publikum an. Natürlich fliegen die Besucher auf die Novitäten. Aber in Leipzig ist das Gruppenerlebnis entscheidend. Jugendliche wollen gemeinsam mit Freunden etwas erleben. Das gibt dann einen richtigen Hype.

Viele kommen wegen der Stars, wegen eines Literaturnobelpreisträgers. Und entdecken dann plötzlich einen jungen Autor, von dem sie noch nie etwas gehört haben. Oder stoßen auf interessante Leseformate: Popliteratur, Spoken- Word, Slam-Poetry. Und nicht nur Hochliteratur. So hat sich über die Jahre ein bestimmtes Image der Messe für ein junges Publikum herausgebildet.

Trotzdem scheinen das gefühlte Interesse am Buch und die reale Lesekompetenz der Deutschen stark auseinanderzudriften. Der Studie Lesen in Deutschland 2008 zufolge liest jeder Vierte in Deutschland niemals ein Buch. Laufen der Buchbranche die Kunden weg?


Die Untersuchungen zeigen, dass sich am Verhältnis Leser zu Nicht­leser gar nicht so viel geändert hat. Was sich ändert, ist die Art und Weise, wie gelesen wird. Trotzdem muss die Buchbranche ein virulentes Interesse daran haben, sich neue Leser heranzuziehen. Deshalb ist Leseförderung eine essentielle Notwendigkeit. Schneller Verkauf allein reicht nicht. Und unsere Messe ist ein gutes Medium, um Jugendliche für Bücher zu begeistern.

Das Statistische Bundesamt hat herausgefunden, dass die durchschnittliche Fernsehdauer in Deutschland pro Tag 210 Minuten, die durchschnittliche Lesedauer nur 45 Minuten beträgt. Zieht man Gebrauchsanweisungen, Broschüren und Kataloge ab, bleiben für Bücher gerade einmal 8 Minuten. Ist Deutschland wirklich ein Leseland?


Das ist eine Entwicklung, die man mit ins Kalkül ziehen muss. Es stellt sich für mich vielmehr die Frage, ob es unserer Gesellschaft gelingt, dass Deutschland auch unter sich verändernden Bedingungen der Mediennutzung ein Leseland bleiben kann.

In Ray Bradburys Buch


So pauschal glaube ich das überhaupt nicht. Das Medienverhalten verändert sich, die Bedeutung des Netzes nimmt weiter zu. Trotzdem bleibt Lesen eine Grundkompetenz für jegliche Mediennutzung. Und wir müssen uns vor allem fragen, was getan werden muss, damit auch in Zukunft Kindern diese Grundkompetenz auf breiterer Basis vermittelt werden kann. In vielerlei Hinsicht liegt der Schlüssel hier im Elternhaus. Was die Eltern hier tun oder lassen, bestimmt wesentlich den Weg der Kinder. Und ohne Vorbilder greifen die Kinder nicht zum Buch. Hier ist ein Punkt, an dem wir ansetzen müssen.

Auf Buchmessen scheinen sich immer wahnsinnig viele Leute für das Lesen zu interessieren. Trotzdem gibt es in Deutschland rund vier Millionen sekundäre Analphabeten. Sind Buchmessen nur eine große Simulation von Leseinteresse?


Das glaube ich nicht. Eine Leipziger Buchmesse, die vier Tage dauert und in dieser Zeit 150.000 Besucher anzieht, kann natürlich nicht die Welt retten. Aber auf der Messe passiert in Bezug auf Leseförderung schon eine ganze Menge. Zum einen ist da unser professionelles Bildungsprogramm, in dem neueste Erkenntnisse zum Thema präsentiert und Erfahrungen von Pädagogen und Literaturvermittlern für die praktische Arbeit übers Jahr ausgetauscht werden.

Zum anderen haben wir ein sehr breites Veranstaltungsprogramm, das Kinder und Jugendliche nicht nur passive Zuschauer sein lässt, sondern sie ganz direkt mit ein­bezieht. Dazu gehören auch junge Besucher im Schulklassenverbund, von denen einige auf diese Weise überhaupt zum ersten Mal mit Büchern und Literatur in Berührung kommen. Und jeder Jugendliche, der sich über die Buchmesse für Bücher und das Lesen begeistern lässt, ist ein Erfolg.

Lange wurde die Leipziger Buchmesse als Kinderkreuzzug be­lächelt, weil Jugendliche er­mäßigten Eintritt erhielten, um die Besucherzahlen nach oben zu treiben. Welche Erfahrungen haben Sie mit den Lesebe­dürfnissen von Jugendlichen auf der Messe gesammelt?


Einer Umfrage zufolge, die wir vor etwa zehn Jahren gemacht haben, war das Label „Leipziger Buchmesse“ für Jugendliche eher abschreckend. Heute geht man hin, weil etwas los ist. Kommt ins Stöbern, macht Entdeckungen, entwickelt so etwas wie eine Autonomie des Geschmacks. Deswegen entwickeln wir an der Messe auch spezielle Projekte für Schulklassen. Die bringen uns das Publikum, das nicht a priori auf eine Buchmesse geht. Wie viele dann wirklich als neu gewonnene Leser hängen­bleiben, ist sicher schwer zu sagen. Einige von ihnen finden es wahrscheinlich auch öde, auf eine Buchmesse zu gehen. Aber jeder für sich findet dann doch Angebote, die ihn interessieren. Plötzlich sitzen 15-Jährige in Veranstaltungen, wo man sie nicht erwartet hätte oder hören aufmerksam älteren Schriftstellern zu. So entdecken sie auf der Buchmesse ihre eigene Individualität. Die Buchmesse wirkt wie ein Lockstoff.

Rousseau hat Lesen als „Geißel der Kindheit“ bezeichnet. Das wäre also nicht ihre Erfahrung?


Nein. Ich weiß nicht in welchem Zusammenhang er das geäußert hat, aber meine Erfahrung ist das nicht. Ich bin vielmehr fest davon überzeugt, dass Lesen die Grundkompetenz jeder selbstbestimmten Mediennutzung ist. Glaubt man OECD-Studien, können Kinder, die lesen, besser in komplexen Zusammenhängen denken, sich selbst besser organisieren. Sie ­haben letztlich auch bessere ­Chancen, selbstbestimmt ihr ­Leben zu meistern.

Sind Jugendliche ein Indiz für ein geändertes Leserverhalten?


Die Geschwindigkeit und die Möglichkeiten, Wissen aufzunehmen, haben sich rasant geändert. Jugendliche sind überfliegende Leser, scannen, pflegen weniger das klassisch bildungsbürgerliche Tiefenlesen. Betreiben Wissensmanagement mit dem Computer. Das muss sich auch in der Leseförderung niederschlagen. Der klassische Ansatz: Ich schlage das Buch auf und lasse mir einen Text vor­lesen, ist da nur der Beginn. Damit sollte es allerdings schon im Kleinstkindalter beginnen. Kinder, die in ihrer ganz frühen Jugend vorgelesen bekommen, sind im Hinblick auf die Ausbildung ihrer künftigen Kompetenz, mit Medien umzugehen, klar im Vorteil.

Der Ratschlag: Greif zum guten Buch ist also mehr so ein kleinbürgerlicher Reflex?


Man muss das eine tun, ohne das andere zu lassen. Und natürlich ist es wichtig , wenn Jugendbuchverleger auf Qualität achten. Aber man wird nicht jeden Leser zu ­einem Schöngeist ausbilden können. Erst einmal geht es darum, überhaupt längere Texte zu ­bewältigen und sich für Lektüre zu interessieren. Und ob da immer die hochpädagogischsten ­Geschichten gewinnen, wage ich zu bezweifeln. Man muss Fantasy, Comic oder Graphic Novel, auch den PC und das Netz mitdenken, wenn man Jugendliche wirklich fürs Lesen begeistern will.

Die Aliteralität, die man Jugendlichen gemeinhin unterstellt, ist also nicht gleich Illiteralität?


Ich glaube das nicht. Das eine ist das Interesse. Das andere die Fähigkeit. Es gibt durchaus mehr Jugendliche, die die Fähigkeit schon hätten, aber kein Interesse entwickeln, weil ihnen die Initialzündung fehlt. Entweder gibt es im Elternhaus keine Bücher, oder sie haben auch keine Freunde, die sich für Bücher interessieren. Und die Schule allein kann das auch nicht leisten.

Leseförderung in Deutschland kennt man als symbolische ­Goodwill-Aktionen: bundesweite ­Vorlesetage, Lesewettbewerbe. Reicht das aus?


Kaum. Das sind oft Aktionen für Kinder und Jugendliche, die aus Elternhäusern kommen, in denen schon gelesen wird. Aber es muss ja auch denen geholfen werden, die diesen Vorteil nicht mitbringen. Die Stiftung Lesen hat zum Beispiel mit dem Freistaat Sachsen einen „Erstlesekoffer“ entwickelt, den Eltern schon nach der Geburt eines Kindes bekommen. Kinder müssen schon im Vorlesealter mit Büchern in Berührung kommen und sie als selbstverständlichen Teil ihrer Spiel- und Lebenswelt ansehen. Das ist eine Investition, die auch die Gesellschaft leisten muss.

Man muss also mehr tun, als zu Weihnachten Bücher schenken?


Es nützt wenig Bücher zu verschenken, wenn die Beschenkten damit nichts anfangen können, ihre Benutzung nicht eingeübt haben. Kinder ahmen nach, was ihre Eltern und Großeltern, ihre Freunde machen. Wenn man nicht von klein auf in dieser Kultur drin ist, darin aufwächst, kommt man nachträglich auch nur sehr schwer hinein.

Welches Buch lesen Sie gerade?


Eines, das es einem trotz seines Umfangs leicht macht dabeizu­bleiben: Claudio Magris’ Buch

Oliver Zille, 1960 in Leipzig geboren, studierte an der Berliner Hochschule für Ökonomie Außenwirtschaft und Handel. Mit 30 Jahren erhielt er 1991 das Angebot, bei der Leipziger Buchmesse mitzuarbeiten und wurde deren Direktor. Seit 1993 steht er auch Europas größtem Literaturfest Leipzig liest! vor

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