Mehr Milch trinken

GEGEN DIE EXPLOSION DER KONFLIKTE Die 53. Internationalen Filmfestspiele in Locarno

Es wird ein Krieg werden". Der Satz, den der diabolische Magneto alias Ian McKellen in dem neuen Action-Film X-Men ausstößt, liess aufhorchen. Bryan Singers jetzt auch in Deutschland mit grossem Werberummel angelaufene Filmversion der legendären amerikanischen Comic-Serie von den Mutanten, die überirdische Fähigkeiten wie Strahlenblicke haben und sich verwandeln können, hätte eine packende Parabel werden können auf die schöne neue Welt: der Kampf der Aussenseiter, eine Vorschau auf das Gen-Zeitalter. Doch er endete in einem schlechten James Bond. Die Mutanten sind säuberlich aufgeteilt in Gute und Böse. Einer ihrer Anführer will die in New York auf Ellis Island versammelten Staatschefs der Welt gefangen nehmen. Und stürzt nach einer Sturzflut der Effekte und aberwitzigen Verfolgungsjagden ausgerechnet auch noch von der Freiheitsstatue.

Ist der Krieg wieder der Vater alle Dinge? Hält man sich an drei spektakuläre Produktionen der 53. Internationalen Filmfestspiele in Locarno, stehen unruhige Zeiten bevor. In Virginie Despentes und Coralin Trin This Skandalfilm Baise-Moi drehen zwei Frauen den Spiess der Gewalt herum und begeben sich, nachdem sie nach ihrer gemeinsamen Vergewaltigung im Affekt zwei Freier getötet haben, auf eine wilde Pulp-Fiction-ähnliche Jagd. Männer, die sich ihnen in den Weg stellen, werden umgelegt. Ins Bett. Oder gleich ins Grab. Despentes proklamiert die "kriegerische Version einer feministischen Avantgarde". Den Krieg erklärt hat auch der schwarze Polizeidetektiv Shaft, der in John Singletons gleichnamigem Film seinen Dienst quittiert und sich in einen Privatkrieg gegen einen rassistischen, reichen Weissen einlässt, der einen farbigen Studenten ermordet hat. Zwar ruft Shaft bei der mitunter mehr als illegalen Verfolgung des Mörders ironisch "Its Giuliani-Time", trotzdem ist der Film eine drastische Aufforderung zur Selbstjustiz.

Gerade Singers X-Men ist in dieser Phalanx künstlerisch unerheblicher, aber gesellschaftlich siginifikanter Kassenschlager aufschlussreich. Bei Singer kehrt der Science Fiction seine klassische Struktur, die Projektion des Anderen, um und verlegt die Auseinandersetzung ins Innere der Gesellschaft in einen Krieg der Körper. Dazu kommen der Krieg der Geschlechter und der Krieg der Rassen. In der Kulisse des Tessiner Erholungsortes fiel es manchmal schwer, gegen die alles überziehende Idylle von Lago Maggiore und Schweizer Bergen zwischen Espresso und Pasta anzukämpfen. Insbesondere wenn in Europas grösstem Freilichtkino abends die Häuser um die Piazza Grande malerisch angestrahlt wurden. Doch wenn plötzlich beim Glockenschlag um halbzehn nachts alle Lichter in den Cafes ausgingen und fast zehntausend Menschen auf eine 14 mal 26 große Leinwand starrten, fing man an wieder zaghaft zu glauben, dass das hierzulande totgesagte Prinzip "Kultur für alle" vielleicht doch noch eine Zukunft hat.

Doch die Explosion der Binnenkonflikte, die einen Grossteil der in Locarno vorgestellten Produktionen durchzog, war aber nicht zu übersehen. Zehn Jahre nach 1989 wirkt das wie eine Bestätigung von Heiner Müllers Diktum vom Konflikt als letztem Statthalter der Humanität in einer immer beziehungsloseren Welt. Sinnfälligstes Symbol dafür war Romuald Karmakars überraschend mit dem zweiten Preis, dem Silbernen Leoparden, ausgezeichneten Film Manila. In der klischeereichen Komödie auf deutsche Urlauber entladen sich die in der zufällig zusammengewürfelten Truppe während der Wartezeit auf dem Flughafen von Manila ausgebrochenen Konflikte schliesslich in einem grossen Gesangsfinale. Am überzeugendsten zeichneten die chinesischen Filme eine von ihren inneren Widersprüchen zerrüttete Gesellschaft. Wang Shuos mit dem Goldenen Leoparden ausgezeichneter, in China verbotener Film Baba aus dem Jahr 1996 ist eine großartige Parabel auf die Dekonstruktion der politischen Autorität mittels einer Vater-Sohn-Geschichte. Darin zeigt sich ebenso ein von Kriminalität, Konsumismus und hohler politischer Phrase zerfressenes Rotchina wie in Feiang Xiaris Thriller A Lingering Face, wo zwei Lastwagenfahrer eine Anhalterin vergewaltigen, die als Stripperin in einem Bordell arbeitet.

Wie kann man die realen gesellschaftlichen Konflikte wieder besser darstellen? Am besten mit Pseudorealismus. Seit Dogma durchzieht das verwackelte Authentizitätsgehubere der Handkamera wie ein HIV-Virus die zeitgenössische Filmproduktion. Manchmal gelingt es, sich damit den Dingen wieder ganz unmittelbar, zugleich behutsam und unsentimental anzunähern, wie etwa Terence Davies in seinem Film Cites de la Plaine. Er schildert das Schicksal eines arabischen Einwanderers nach Frankreich, der erst seine Frau verliert, dann zusammengeschlagen wird und erblindet. Meistens aber nicht. Wie in Baise-Moi. Die Bedeutung und die Faszination dieses in Locarno mit Spannung erwarteten und dann milde ausgepfiffenenen Streifens liegen weniger in der Gewalt und im Sex. Auch wenn die Gewalttäter nun Frauen sind, ist das noch lange kein Vorschein auf einen Feminismus der Zukunft. Wenn eine der Frauen in der Mitte des Films darüber nachdenkt, was sie nach ihrem Amok-Lauf machen sollen und sagt: "Wir müssen uns jetzt etwas wie Bungee-Jumping ohne Seil ausdenken", scheint hier doch mehr die Sehnsucht nach einem extremen Leben auf. Der Film lebt von der Härte, der Lakonie und einer Atmosphäre der Desillusion, wie sie auch Michel Houellebecq in seinen Büchern beschreibt.

In Locarno dominierte in diesem Jahr der Mainstream des konventionellen unexperimentellen Erzählens. Das auch in der Literatur vehement propagierte Muster könnte sich freilich ein Beispiel an den wirklichen Exempeln erzählerischer Kraft nehmen. In Djamshed Usmonovs Film Tchoh überzeugt der Filmemacher aus dem Osten mit einfachen Themen und einfachen Mitteln mehr als mancher scheinnaive Westeuropäer. Die Geschichte einer Brunnenbohrung in einem Dorf in seinem Heimatland Tadschikistan ist poetisch und gerade deswegen eine viel einprägsamere Bestandsaufnahme der politischen Verhältnisse, wo der Lenin-Wandteppich hinter dem Schreibtisch des Bürgermeisters die neue Despotie verdeckt.

Wie hilflos sich zugleich aber auch der trotzige Kampf gegen die zugerichteten Konfektionsformate, der hinter der Handkamera steckt, verrennt, konnte man an dem portugiesischen Wettbewerbsbeitrag No Quarto Da Vanda sehen. Geschlagene drei Stunden verfolgt die Kamera in einem unterbelichteten Raum des Lissabonner Stadtviertels Fontainhas die existentiellen Verzweiflungen der Schauspielerin, Transvestitin und Fixerin Vanda Duarte, während draussen das Viertel von Baggern abgerissen wird. Der einzige experimentelle Lichtblick war Mike Figgis Time-Code. Man muss sich an die vier gleichzeitig auf die Leinwand projizierten Bilder erst gewöhnen, die vier zeitgleich ablaufende, dann sich verschränkende Geschichten von vier Menschen in Los Angeles zeigen. Der Film - jeweils in einer einzigen Einstellung gedreht, ohne Schnitt - ist ein faszinierendes Experiment in Sachen Simultaneität.

Film ist ein Spiegel der Zeit. Kein Mittel ihrer Beeinflussung. Was hilft gegen die Explosionen der Gewalt? Die Waffen fallen lassen, wie der Kriegsveteran Nika, der in Merab Kotochachvilis Film Noutsas Scola nach seiner Rückkehr gegen die Dorfmafia kämpft, die das geistige Vakuum des postsozialistischen Georgien ausfüllt? Oder mehr Milch trinken? Auf die Idee, dass Kuhmilch sich konfliktmildernd aufs Bewusstsein legt, kommen in dem Film Q-Begegnungen auf der Milchstrasse drei afrikanische Viehzüchter nach einem Besuch in der Schweiz. Eigentlich ein Dokumentarfilm über den Zusammenhang von Milch, Markt und Fortschritt entpuppte sich Jürg Neuenschwanders Streifen als witzig-philosophischer interkultureller Vergleich.

Vielleicht lassen sich die Begriffe einfach umdefinieren. Die Markus-Family ist bestimmt nicht Elfi Mikescs bester Film. Das sechste Werk der Berliner Regisseurin und Kamerafrau handelt von einem 44 Jahre alten, blinden Mann, der bei seinen Eltern in Südfrankreich lebt. In einem kleinen Refugium "am Ende der Welt" hat er sich zwischen Roboterskulpturen und fantastischen Bildern ein eigenes kleines ästhetisches Universum geschaffen. Markus hat eine interessante Definition für den Begriff Terminator. Sein Wunsch, "mit einer inneren synchronen Schwingung der Stabilität alles erkennen" zu können macht aus dem potentiellen Gewalttäter einen Krieger der Kreativität.

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