Milchzahn

WARMHALTEPLATTE Der 9. open-mike-Literaturwettbewerb

Wie findet man heute eine eigene Sprache? Mit Klamotten natürlich. Wie drapiert man eine zu lange Strickjacke unter einer zu engen Jeans-Jacke, so dass die g-shock-Uhr am Handgelenk noch sichtbar und die andere Hand frei bleibt für die Plastiktüte mit dem Lifestyle-Mag? Das will bedacht sein. Die colorierten Modezeichnungen an den Wänden der Berliner LiteraturWerkstatt liefern einen Hinweis auf ihren Erfolg: irgendwie hat sie es über die Jahre geschafft, Lifestyle und Text zu einer attraktiven Aura zu amalgamieren. Anders ist die Magnetwirkung eines Wettbewerbs schwer zu erklären, bei dem man zwei Tage lang nichts anderes tut, als sich kommentarlos 24 durchwachsene Texte und fettige Blätterteigröllchen reinzuziehen. Auch in diesem Jahr verstopften beim 9. open-mike-Literaturwettbewerb wieder gut zweihundert Litmaniacs der H die viel zu enge DDR-Gründerzeit-Villa am Pankower Majakowskiring. Bei nicht wenigen aus diesem Arte Povera-Ensemble hatte man das gleiche Gefühl von "szenischer Eitelkeit", das der Erzähler von Tilmann Rammstedts prämierter Siegesgeschichte bei seiner spiegelungsbedürftigen Quasi-Freundin beobachtet: "Noch wichtiger als gut auszusehen war ihr, gut dazustehen."

Sich mit Sprache zu positionieren ist etwas schwerer als mit Polo-Neck-Sweaters. Hilfe dafür können die Youngster an diesen zwei Tagen aber wenig erwarten. Gewiss ist beim open-mike die seltene Chance, sich plötzlich einmal nach oben katapultiert zu sehen, höher als bei anderen Wettbewerben. Dieses Jahr schaffte es der 29jährige Münchner Lyriker Nico Bleutge. Dessen Präzisionslyrik sich trotz des ungefähren Titels Peilungen auffallend von dem sonst üblichen Gefühlsgestammel abhob. Doch Textkritik findet bei diesem schweigsamen Happening kaum statt. Wenn man von den schütteren Lobreden der Juroren Julia Franck, Adolf Muschg und Jens Sparschuh zur Preisverleihung am Ende absah. Am meisten quasselten in den verkaufsfördernden Pausen Lektoren und Verleger. So unverhohlen, wie hier mit der "Simulation des Verlagsalltags" geworben wird, wirkt der naive Enthusiasmus der Salzburger Lektorin Angelika Klammer, sie kenne wenig Orte, die so "frei von Verwertung" seien wie der open-mike, anrührend. Die Agenten stehen sich die Füße platt. Jeder neu den Kontakthof betretende Verleger wurde per Mikro begrüßt. Sanfte Lounge-Musik umspülte diese Warmhalteplatte des Literaturbetriebs. Sieht man einmal von den sechs Lektoren ab, die aus dem vom Berliner Schriftsteller Michael Wildenhain vorsortierten Berg von diesmal unglaublichen 793 Einsendungen die 24 Texte heraussieben mussten - ohne dass auch nur der leiseste kritische Filter zwischen Literatur und Betrieb geschaltet wäre, wurde hier die allerjüngste Literatur mit dem sonst beklagten Moloch kurzgeschlossen.

Dabei wären angesichts des ebenso oft beklagten, dröge-linearen Erzählens vor begrenztem Horizont, der sich in der Altersgruppe 20 bis 35 breit macht, Impulse zur Positionsfindung vielleicht nicht ganz unangebracht. Ihre orientierungslose Lethargie beschreibt der 26jährige Berliner Autor Rammstedt in seinem Siegertext Ausflug mit L: "Genauer war es natürlich auch L., die, von mir im Mai nach ihren Sommerplänen befragt, mit dieser kräfteraubenden Unverbindlichkeit antwortete, so dass es unmöglich war, irgendeine Position zu verlassen." So selbstironisch, wie sein Erzähler ein Herzensbedürfnis in eine unentschiedene Mechanik distanziert, gelang ihm ebenso der Sprung in die Kunst wie der zweiten Preisträgerin Erika Markmiller, die sich der Welt bemächtigt, indem sie sie verkleinert. Die Protagonistin ihrer Miniatur in F-Moll hat sich auf dem Dach des Elternhauses ihre ganze Familie als Puppenstube nachgebaut. Da muss der verhasste Zwangsverband nach ihrer Pfeife tanzen. Nur selten geraten der gewohnheitsmäßigen "Undeutlichkeit" (Rammstedt) dieser Generation einmal Versatzstücke der Welt außerhalb des schwankenden Ichs, das endlich auch mal beischlafen will, ins Blickfeld. In der Geschichte Ivan im Tal der Toten des 29jährigen Münchners Juraj Miller findet dessen Held bei einer Wanderung durch Istrien Skelette im Gebirgsbach. Jedoch zieht in den meisten Texten die Literatur den Milchzahn der Pubertät. Mit Rammstedt oder Markmiller sind damit nun wieder zwei zu Aspiranten für die Position des unvorhergesehenen Erfolgsautors aufgerückt. Die Taxis fuhren am Ende des Wettbewerbs schon vor, um die Prämierten zum Rundfunk zu fahren. Und danach - so die open-mike-Mär vom prompten Erfolg - warten dann jede Menge "Verlegergespräche". Eine große Herausforderung für jeden Schreibenden. Denn auch da muss man wieder eine ganz eigene Sprache finden.

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